Die alten Frauen mit Rädern hatten Erledigungen zu machen. Sie bewegten sich langsam vorwärts, im Schneckentempo. Sie atmeten schwer, sie keuchten schon, obwohl sie den Grossteil der Strecke noch vor sich hatten. Sie schauten nach unten, stoppten vor jeder noch so flachen Bordsteinkante, und erst wenn sie zu stehen kamen, hoben sie den Blick, um sich zu vergewissern, dass sie nicht vom Weg abgekommen waren. Sie liessen sich erschöpft auf der Sitzfläche ihres Gefährts nieder, das ihr Gefährte war. Sie pausierten, und ich sah so flüchtig in ihre Gesichter, wie sie in meines sahen. Ich suchte nach dem erstbesten Ausdruck. Wie ein Karikaturist fahndete ich nach der einen hervorstechenden Eigenschaft, die das Leben den alten Frauen in die Gesichter gemeisselt hatte. Ich identifizierte Scham, Furcht, Entrüstung. In den schaurigsten Gesichtern stand ein bitterer Vorwurf wie eine Gravur. In den lustigsten hing eine schiefe Frage, die niemand mehr beantworten würde, ein für alle Mal fest.
Auf meinen Wanderungen durch die Stadt fand ich in allen Altfrauengesichtern: Verschlossenheit. Während sie gegen die Schmerzen arbeiteten, versuchten sie, die Trägheit ihrer müden Knochen zu überwinden. Dabei blickten sie nicht auf die Strasse, nicht auf die Passanten, nicht auf den Verkehr, sondern nach innen. Denn einerseits hörten und sahen sie nicht mehr gut und ihnen schwindelte. Andererseits war das Aussen zu laut, zu grell, zu schnell geworden. Sie kehrten sich ab von einer Welt, die sie nicht mehr verstanden und in der sie längst ein Hindernis darstellten, schwerfällig, lahm und mit jenen klobigen, von der Krankenkasse bezahlten Rollgestellen, die den Krückstock aus der Mode gebracht hatten.
Ich dachte über Räder nach:
Dreirad, Rollschuhe, Fahrrad.
Kinderwagen, Auto, Rollkoffer.
Hackenporsche, Rollator, Rollstuhl.
Essen auf Rädern.
Und über die glattglänzenden Flure der Palliativmedizin rollt, von jungen dunkelhäutigen Männern geschoben, das Intensivpflegebett.
Wer am Rollator ging, war noch nicht am Ende.
Wer, Himmel, hatte diese ungeheuerliche Masse an alten Frauen mit Rädern über der Stadt ausgekippt? Warum half ihnen niemand? Weil die Männer rausgeflogen, abgehauen oder gestorben und die Kinder weggezogen waren. Weil die alten Frauen niemandem zur Last fallen wollten und Hilfsangebote ablehnten. Weil sie auf die klugen Leute hörten, die in Fernsehsendungen erklärten, dass Bewegung das A und O sei, um unabhängig und gesund zu bleiben. Dasselbe sagten die Ärzte den alten Frauen mit Rädern; dasselbe sagten die Kinder, wenn sie einmal in der Woche anriefen.
Auch ich hatte ein Kind, das ausgezogen war. Es studierte in einer anderen Stadt, rief seltener als einmal in der Woche an und befand sich in der Fahrradphase. Den Mann, der 20 Jahre mein gewesen war, hatte ich gebeten, nicht mehr wiederzukommen. Auch er lebte nun in einer anderen Stadt und befand sich in der Hackenporschephase. Ich befand mich in der Rollkofferphase, was der Beruf mit sich brachte. Ab und zu ging die Schriftstellerin auf Lesereise – Bahnhöfe, Flughäfen, Hotels.
Räder sind ein Segen für Leute, die es eilig haben. Räder sind ein Segen für Leute, die nichts tragen wollen oder können, manche nicht einmal sich selbst.
Ich hatte es, wenn ich durch die Stadt wanderte, nicht eilig. Ich genoss meine Radlosigkeit. Ich wanderte, weil Bewegung das A und O war, um unabhängig und gesund zu bleiben. Ich wanderte, weil ich die Hackenporschephase hinauszögern wollte, der auf dem Fusse die Rollatorphase folgen würde. Ich war 50 Jahre alt und hatte gelernt, dass sich nach Abschieden neue Möglichkeiten auftaten. Bevor man sie ergreifen konnte, musste man sie erkennen. Um sie zu erkennen, musste man schauen und offen sein wie das Gesicht von Doris Lessing. Ich wanderte, ich schaute.
Die alten Frauen mit Rädern hievten sich von der Sitzfläche hoch, strichen die Jackenschösse glatt, kontrollierten zum wiederholten Mal, ob der Wohnungsschlüssel noch da und der Reissverschluss der Handtasche geschlossen war. Die zittrigen, rheumatischen Hände mit den schwachen Gelenken umfassten die Kunststoffgriffe. Die Augen fixierten die Bordsteinkante, dann die Strasse, und wenn kein Auto kam, nahmen die alten Frauen alle Kraft zusammen und schoben ihren Gefährten und sich Meter um Meter voran. Sengte die Hitze, wurde der Gang zur Apotheke zur Marter. Pfiff der Sturm, wurde der Gang zum Zeitungsladen zur Schikane. Trieb der Schnee, wurde der Gang zum Supermarkt zur Tortur. Was da von dannen rollte, war meine Zukunft.
Ich würde die guten Hosen anziehen, die Haare frisieren, die Brille putzen. Das Portemonnaie sicher verstauen, das Taschentuch griffbereit in die Jackentasche stecken, den empfindlichen Hals mit einem Tüchlein schützen. Kurz vor dem Aufbruch, dessen frühen Zeitpunkt ich mit Bedacht gewählt haben würde, würde ich noch einmal aufs Klo gehen in meiner kleinen Wohnung. Dann würde ich mich allein auf den Weg machen, nur begleitet vom Rollator, dem sperrigen Requisit.
Katja Oskamp
Die in Berlin aufgewachsene Autorin (*1970) hat Theaterwissenschaften studiert und als Dramaturgin am Volkstheater Rostock gearbeitet. Nach ihrem Studium am Literaturinstitut Leipzig hat Katja Oskamp mehrere Bücher veröffentlicht. Der Schriftstellerei überdrüssig, hat sie sich 2015 zur Fusspflegerin ausbilden lassen und arbeitet seither Teilzeit in einem Kosmetiksalon im Berliner Bezirk Marzahn. Die wundersamen Geschichten, die sie dabei von den Menschen hört, sind 2019 in ihrem Band «Mahrzahn, mon amour – Geschichten einer Fusspflegerin» (Hanser) erschienen.