«Wie lange dauert es eigentlich, ein Buch
zu schreiben?»
«Lange!»
«Aber wie lange ist lange?»
«Unterschiedlich lange.»
Unter den zehn häufigsten und demzufolge beliebtesten Fragen, die ich als Kinderbuchautorin bei Lesungen gestellt bekomme, ist die Frage nach dem zeitlichen Aufwand immer dabei. Sehr verlässlich und dicht gefolgt, vom Interesse an meiner geistigen und körperlichen Verfassung: «Wie lange möchten Sie eigentlich noch schreiben?» Oder der von besonders kecken Schülern gestellten Frage nach meiner Sozialverträglichkeit: «Sie, haben Sie einen Mann?»
Die letzten beiden Fragen lassen sich einfach beantworten: Ich habe vor zu schreiben, bis ich tot vom Stuhl kippe, und ja, es gibt da jemanden, der mit mir die Geschirrspülmaschine ausräumt und danach den Abendhimmel bestaunt.
Bleibt also die Frage nach Zeit und Aufwand. Diese Frage ist mir immer ein bisschen unangenehm und ehrlicherweise weiss ich darauf keine präzise Antwort zu geben.
Dabei könnte ich irgendetwas behaupten: Für einen Roman mit hundert Seiten braucht man hundert Tage. Für tausend Seiten … Moment, habe ich schon mal ein tausendseitiges Buch geschrieben? Nein, habe ich nicht! Und würde es wirklich so viel länger dauern als ein hundertseitiges? Kann ich nicht sagen. (Über die Fingerfertigkeit, die es braucht, um in schwindelerregendem Tempo Wort für Wort in die Tastatur zu hauen, verfüge ich ja durchaus.) Trotzdem habe ich keine Ahnung, wie viel Zeit es in Anspruch nehmen würde, einen richtig dicken Schmöker zu schreiben. In Minuten und Stunden, in Tagen und Jahren. Ich kann nicht mal behaupten, dass ich weiss, wie lange es dauert, einen einzigen Satz zu schreiben. Manchmal eine Minute, manchmal eine Woche. Es kann aber auch ein Monat verstreichen, ohne dass ich zufrieden bin mit dem, was ich auf der Festplatte abgespeichert habe. Erste Sätze zum Beispiel müssen besonders gut sitzen und sind für mich eine Art Kickstart für das ganze Buch. Für Schlusssätze hingegen habe ich ein natürliches Talent, die fallen mir meist im Schlaf ein. (Was allerdings nicht bedeutet, dass ich mich am nächsten Morgen noch daran erinnern kann.)
Der einfachste Part ist, eine Idee zu haben. Ideen habe ich immer viele. Sie fliegen mir zu wie bunte Vögel. Sie kommen von überall und zeigen gerne ihr schillerndstes Gefieder. Sie singen und locken und das Schreibzimmer wird zur bunten Voliere. Ein unvergleichliches Glücksgefühl. Doch dann werden es immer mehr Vögel und schon bald herrscht Dichtestress. Jeder einzelne Vogel kämpft jetzt verbissen um seine Daseinsberechtigung. Der eine kräht laut und der andere zirpt leise. Die Qual der Wahl. Welchen Vogel soll ich behalten? Den grünen mit den blauen Brustfedern oder den roten mit der gelben Haube? Die Stunde der Entscheidung. Damit eine Geschichte funktioniert, braucht sie viele bunte Federn, um beim Bild mit den Vögeln zu bleiben. Doch was ist, wenn den gewählten Prachtsvogel die Mauser befällt und seine Federn dem kritischen Blick nicht standhalten? Dann wird aus ihm womöglich ein armseliger gerupfter Pfau, der beschämt auf das bisschen Flaum schaut, das ihm geblieben ist. Jetzt muss ich mich erneut entscheiden: Entweder lasse ich ihn ziehen, oder ich hege und pflege ihn, bis er wieder zu dem stolzen Vogel wird, den ich im neuen Federkleid hinaus in die Welt schicken möchte. Und wie lange dauert das?
Manchmal passiert das sehr schnell und manchmal dauert es ewig. Und wie lange? Eine Stunde? Drei Tage? Ein halbes Jahr? Keine Ahnung!
Anstrengend, denken Sie? Im Gegenteil. Ein Glück. Denn Kreativität ist etwas vom Wenigen, was sich weder planen noch messen lässt. Sie hat somit auch etwas sehr Befreiendes. Dank meinem schlauen Handy weiss ich zum Beispiel, wie viele Schritte ich von zu Hause bis zu meinem Schreibtisch brauche. 857!
Ich kenne die Energie der Schokolade, die ich mir während der Arbeit gönne, und ich wüsste, wie viele Treppenstufen ich steigen müsste, damit ich sie nie gegessen habe.
Ich hätte sogar meinen Blutdruck messen können, nachdem mein Bildschirm plötzlich aus unerklärlichen Gründen grau geworden ist. (Vermutlich war er eher hoch.)
Aber ob mir, während ich laufe, Schokolade esse oder mich ärgere, der Buchanfang aller Buchanfänge einfällt, kann nicht errechnet werden. Es gibt auch keine Droge, die man als Garant für einen nie versiegenden genialen Schreibfluss einsetzen könnte. Weder Alkohol noch Kurkuma-Cale-Ingwer-Tee (was bei häufigem Genuss wahrscheinlich sowieso beides ein paar Unpässlichkeiten zur Folge hätte.)
Ich mochte schon immer Dinge, die sich nicht berechnen lassen. Eine Charaktereigenschaft, die nicht unbedingt zu einem besseren Verhältnis mit Mathematiklehrern führt. Aber für wissbegierige Leser und Leserinnen ist diese Erklärung natürlich nur bedingt befriedigend. Deshalb sage ich das nächste Mal, wenn mich wieder jemand fragt, wie lange es dauert, ein Buch zu schreiben, einfach: 167 Mal den Computer an- und abschalten, 53 Mal aus dem Fenster gucken (40 Mal lange), einmal den Backofen putzen, sehr viele Treppenstufen steigen, 50 Mal zum Kühlschrank gehen, acht Mal telefonieren (davon einmal mit dem Verlag, um den Abgabetermin nach hinten zu schieben), zehn Mal Entspannungsübungen machen und dazwischen immer wieder sich freuen und lachen. Ja, ich glaube, exakt so lange dauert es.
Katja Alves
Die 56-jährige Schriftstellerin schreibt Kinderbücher, arbeitet als Verlagslektorin und schreibt Texte für das Radio. Sie lebt in Zürich.