Mein Freund R. behauptet, das Schreiben gehe ihm am besten im Zug von der Hand. Ich bin im Besitz eines Bürostuhles auf Rädern. Könnte also problemlos eine Zugfahrt nachempfinden, indem ich an der Kante meines Schreibtisches auf und ab führe. Aber mein Freund meint, schreiben im Zug sei trotzdem und auf jeden Fall besser – auch für die Beziehung zu den Nachbarn im unteren Stockwerk.
Die lange Fahrt zu einer Lesung nach Leipzig schien mir angemessen, um mich dem Schreiben des grossen Romans nach amerikanischem Beispiel zu widmen. Sieben Stunden Fahrt. Da schafft man sogar noch den Rückseitentext. Allerdings gibt es keine direkten Verbindungen von Zürich nach Leipzig. Die deutsche Bahn zwingt einen, in Frankfurt umzusteigen. Schlechte Voraussetzung, um den von R. heraufbeschworenen Schreibfluss aufrechtzuerhalten.
Trotzdem, ein Versuch war es mir wert.
Bis Basel schaute ich aus dem Fenster und dachte nach. Und zwar explizit darüber, warum der junge Mann, der sich zwei Sitzreihen schräg gegenüber von mir befand, im zarten Alter von zirka 30 Jahren ein so hässliches Bon-Jovi-T-Shirt trug. Hatte er es von seinem Grossvater geerbt? Womöglich war das Tragen mit einem hinterhältigen letzten Wunsch verbunden, den der arme junge Mann jetzt ausbaden musste. Als ich noch als Musikredaktorin bei DRS 3 tätig war, wünschte ich mir allerlei Sachen. Zum Beispiel irgendjemand möge Jon Bon Jovi für immer zum Schweigen bringen. Dieser Wunsch blieb bis dato leider unerhört.
Andere Wünsche hingegen gingen in Erfüllung. An einen erinnerte ich mich, als wir in Freiburg eintrafen. Das war so: Nachdem ich einem Kollegen von der Kulturredaktion damit gedroht hatte, ihm kurz vor seiner Sendung K.-O.-Tropfen in den Kaffee zu schütten, erlaubte er mir ohne grösseren Widerstand, seinem Gespräch mit dem US-amerikanischen Autor T.C. Boyle beizuwohnen. Ich war glücklich. T.C. Boyle erzählte ausführlich aus seinem Leben und zu guter Letzt von seinen Schreibkursen, die er an Universitäten anbot. «Kann man das Schreiben lernen?», rief ich verwundert. «Ich meine, Kreativität und so … halt all das, was zwischen den Kommas steht?»
Ich zwängte ihm das Mikrofon erwartungsvoll zwischen seinen Mund und das Mineralwasserglas, das er zum Trinken anhob. T.C. Boyle sah mich an und lächelte. Dann sagte er – nein, das verrate ich Ihnen hier nicht. Das wird für immer unser Geheimnis bleiben. Ich kann Ihnen nur so viel verraten, dieses Gespräch fand vor der Erfindung der E-Books statt, und mancher für die Literatur geopferte Baum hätte sich über Boyles Antwort gefreut.
Ich starrte auf mein Laptop-Kabel. Irgendwo musste der Stecker wohl rein. Freundlich tippte ich meinem Sitznachbarn auf das rechte Knie. Keine Reaktion. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich zwischen seinen tätowierten Waden unter die Sitzbank zu zwängen, um nach einer geeigneten Steckdose zu forschen. Ich fand sie knapp vor Mannheim. Allerdings war die Steckdose bereits mit dem Stecker meines Nachbarn belegt. Ich riss den Stecker kurzerhand heraus und zog am Kabel. Freie Stromzufuhr für meinen Laptop. Der Tätowierte machte noch immer keinen Wank. Vielleicht war er nicht mehr unter uns. Ich zupfte vorsichtig an seinem iPod: «Hallo?», er zuckte zusammen. Was ich als Zeichen deutete, dass noch Leben in ihm atmete. Beruhigend. Bis Frankfurt versuchte ich, meinen Computer aufzustarten. «Klappts nicht?», fragte ein Herr in einem rosa Hemd. Nein, und es klappte auch nicht, nachdem er mich noch weitere zehn Mal gefragt hatte. Endlich! Kurz vor Frankfurt gelang es mir, den Laptop aufzuschalten. Aber jetzt musste ich umsteigen. Ich nahm ihn unter meinen Arm und verliess den Waggon. Im nächsten Zug bemerkte ich, dass sich der Stecker immer noch im ersten Zug befand. Die Batterie war jetzt beinahe leer.
Himmel, kurz vor Fulda, und ich hatte noch keine einzige Zeile verfasst. Vielleicht sollte ich auf Poesie umsatteln. Von Hand geschriebene Kurzgedichte. Bis Erfurt suchte ich nach einem Notizbuch. Das Einzige, was ich fand, war ein leerer Zettel.
Na ja, dann schreibe ich eben einen Briefroman. Das ist sowieso praktischer, weil man da nur die Hälfte selber schreiben muss. Ich begann:
«Lieber R. Das Schreiben im Zug geht tatsächlich ganz super (gelogen) und bringt viele interessante Herausforderungen mit sich (die Technik). Aber noch besser klappt es mit dem Lesen.» Ich nahm meinen dicken amerikanischen Roman hervor und tatsächlich! Bis Leipzig schaffte ich, wenn auch nicht den ganzen Roman, aber doch eine ganz manierliche Anzahl von Seiten.
Katja Alves
Katja Alves wurde 1961 im portugiesischen Coimbra geboren. Aufgewachsen ist sie in Zürich, wo sie eine Lehre als Buchhändlerin machte. Für Radio DRS arbeitete sie als Musikredaktorin und hat Hörspiele für Kinder und Erwachsene geschrieben. Heute ist sie als freie Journalistin und Kolumnistin für verschiedene Printmedien tätig. Zudem arbeitet sie als Lektorin im NordSüd Verlag sowie als Autorin, hauptsächlich von Kinderbüchern. Zuletzt ist von ihr der Kinderroman «1000 Gründe, warum ich unmöglich nach Portugal kann» im Beltz & Gelberg Verlag erschienen. Katja Alves lebt mit ihrer Tochter in Zürich.