«Was passiert mit einer Sprache, wenn wir sie nicht mehr sprechen? Setzt sie Staub an wie Bücher? Schrumpft sie? Zerbröckelt sie wie Knäckebrot?» Diese Fragen stellt sich die 14-jährige Chaya, die in den 1970er-Jah-ren vom Iran in die Schweiz kommt – ohne Familie, ohne Sprachkenntnisse. Innert kürzester Zeit lernt die junge Frau Deutsch, wählt dazu aber einen radikalen Weg: Die Muttersprache Persisch streift sie ab wie eine alte Haut, um die neue Sprache zu verinnerlichen. Als 20-Jährige betreibt Chaya bereits eine Gedichtagentur, unterrichtet in einer Sprachschule und spricht fliessend Mundart.
Mit spitzer Feder und kühler Distanz
Auch die neue Kultur hat sie sich zu eigen gemacht: Sie ist mit dem um viele Jahre älteren David sowie mit dem narzisstisch veranlagen Erik verbandelt. Mit der Treue nimmt es keiner so genau: «Ach, Eifersucht ist etwas Bürgerliches, findest du nicht? Warum soll man Menschen, die man mag, eine Szene machen?», sagt etwa David. Er hat einen Ordner mit ihren Briefen angelegt, überschrieben mit «Chaya tobt», und ins Bücherregal neben Thomas Bernhards Werk gestellt.
Die 53-jährige Autorin Kathy Zarnegin geht in ihrem Debütroman mit viel Witz und Ironie ans Werk. Während der erste Teil, der im Iran spielt, von liebevoll-humorvollen Kindheitserinnerungen geprägt ist, erzählt sie im zweiten Teil aus der Schweiz aus einer ironisch-distanzierten Perspektive. Die patriarchalen Verhältnisse nimmt sie im Herkunftsland ebenso wie in der Schweiz aufs Korn. So beschreibt sie etwa die beiden Frauen ihres Vaters: die «kränkelnde Verständnisvolle» und ihre Mutter, die «anstrengende Schönheit». Aus der Schweiz berichtet sie mit spitzer Feder von Vorurteilen oder vom Literaturbetrieb und einigen selbstverliebten Darstellern, die sich darin tummeln.
Die Schriftstellerin spielt in ihrem Roman mit autobiografischen Elementen. Sie ist selbst als 14-Jährige kurz vor der Islamischen Revolution aus dem Iran nach Basel gekommen, hat Philosophie studiert und als Lyrikerin die neue Sprache entdeckt. Heute organisiert sie das Lyrikfestival Basel, schreibt an ihrem zweiten Roman und hat nach ihrer psychotherapeutischen Ausbildung eine «Liebeskummerpraxis» eröffnet. Darin widmet sie sich der Liebe in allen Ausprägungen, von amourösen Verwicklungen bis zur Elternliebe. Den Zugang findet sie wiederum über die Sprache, wie sie sagt. «Die Sprache ist für mich der Königsweg zum Heimatgefühl.»
Buch
Kathy Zarnegin
«Chaya»
243 Seiten
(Weissbooks 2017).
5 Fragen an Kathy Zarnegin
«Das heutige Teheran hat nichts mit dem Persien meiner Kindheit zu tun»
kulturtipp: Ihre Hauptfigur Chaya kam wie Sie als 14-Jährige vom Iran in die Schweiz. Wie haben Sie damals Ihre eigene Ankunft in Basel erlebt?
Kathy Zarnegin: Sehr freudig, obwohl ich von der Schweiz nichts wusste. Ich war neugierig, was mich erwartet.
Nur die Trennung von meiner Familie hatte ich mir nicht so schwierig vorgestellt. In der Pubertät neigt man ja zur Selbstüberschätzung, und ich sehe erst im Rückblick, was ich verpasst habe. Aber ich fand in der Schweiz schnell Freunde, die mich heute noch begleiten.
Ist es Ihnen wie Ihrer Hauptfigur Chaya ergangen, dass Sie Ihre Muttersprache abstreifen mussten, um die neue Sprache zu verinnerlichen?
Ja, das ist meine Erfahrung. Mit 14 kann man schlecht eine zweite Sprache so lernen, dass man literarisch schreiben kann, wenn man nicht radikal ist. Heute bedaure ich es, dass ich nicht auch auf Persisch schreiben kann. Erinnerungen aus der Kindheit, diese Bilder aus der Vergangenheit, sind immer auf Persisch da. Aber es ist ein anderes Koordinatensystem, ich kann nicht in dieser Sprache schreiben, auch wenn es meine Herzsprache – oder meine spontane Sprache etwa beim Fluchen – ist.
Von den Jahren in Teheran erzählen Sie in einer lebendigeren Sprache, während die Jahre in der Schweiz eher aus einer distanzierten Perspektive geschildert werden. Haben Sie selbst auch diesen Eindruck?
Im zweiten Teil sind es andere Geschichten und andere Charaktere, die eine andere Sprache erfordern. Aber sicher ist eine gewisse Kälte im zweiten Teil da. Es kann nicht die Intensität der Zeit haben, als noch die Muttersprache am Werk und die Familie da waren.
Chaya freut sich über die Pakete ihrer Familie mit Safran und Pistaziennüssen aus dem Iran. Was vermissen Sie selbst aus Ihrer alten Heimat?
Die Erinnerungen berühren mich wie abgelegte Spielsachen, die man zufällig im Estrich wiederfindet. Ich vermisse die Menschen, meine Familie. Alles andere ist ersetzbar. Und das heutige Teheran hat nichts mehr mit dem Persien meiner Kindheit zu tun – die Stadt ist von 4 auf 14 Millionen angewachsen, und mit all den politischen Veränderungen ist die Stimmung eine andere.
Im zweiten Teil Ihres Romans äussern Sie sich kritisch über den Literaturbetrieb in der Schweiz. Für die Beschreibungen von patriarchalen Verhältnissen oder Vorurteilen verwenden Sie satirische Mittel …
Ich empfinde es nicht als satirisch im Sinne von übertrieben. Es ist eher untertrieben, entspricht meinen Erfahrungen und Beobachtungen. Vorurteile erwartet man in Kulturkreisen nicht, aber es gibt sie. Man wird beurteilt aufgrund von Äusserlichkeiten. Ob man eine Frau ist oder ein Mann, jung oder alt, einen Migrationshintergrund hat oder nicht, attraktiv ist oder gut vernetzt. Es gibt etwas Heuchlerisches im ganzen Betrieb: Man tut so, als ob nur das Werk zählen würde, und dabei sind alle in erster Linie von der Person der Autorin oder des Autors beeinflusst.