Die Kindheit war aubergine, oraniengelb und orientrot. Fast wie ein Bild von Mark Rothko. Wäre sie ein Sternbild gewesen, dann käme nur der Tukan infrage, südlich des Kranichs. Man müsste also Lupinenblau auch noch dazu nehmen, und etwas Trockenerdebeige. Der Regenguss käme von alleine. Ach, käme er nur! Um barfuss im Garten herumzurennen. Oder wie eine Feder hochzuspringen, um noch mehr Regentropfen an den Kopf zu bekommen. Je mehr, desto besser! Um überhaupt das Staubbeige auch mal unter den Füssen zu spüren! Und dann gäbe es keine Farben mehr. Was kümmerte mich das Pyjamapink, wenn es regnete, und es regnete so, dass der Lehm zu seufzen begann.
Kindheit. Trennbar vom Essen? Mutter, Futter – ja, was noch? Man frage Marcel! Und man wird zu hören bekommen: Jedem seine Madeleine! Lichtjahre von der Kindheit entfernt, und man sehnt sich nach Kichererbsenmehl mit Zucker. So was kennen nur die Kinder. Weil das Beste am Kichererbsenmehl mit Zucker die Bosheit ist: Man saugt es trockenerdevorsichtig in einen Strohhalm und bläst es tornadomässig dem Gegenüber ins Gesicht. Kichern inklusive. Allerdings musste man sehr weit reisen, um einen Strohhalm aufzutreiben, eine Madeleine sowieso. Blieben also die guten alten BIC-Kugelschreiber, die sich auch ausserhalb des Unterrichts als wertvoll erwiesen. Dann war die Kindheit lattichgrün. Im Ernst – also nicht, fast nicht metaphorisch gemeint. Lattichblätter auf einem Teller, Essig in einer Schale und ein flüssiger Sirup namens Sekandjebin in einer anderen: So was nannte sich dann Afternoon-Salat-Sekandjebin. Und man konnte es nur am Boden sitzend essen – weiss der Geier warum. Vielleicht weil man sich dann wie ein Adler auf den Jungvogel, ach, so lattichgrün, stürzen und ihm ein Federblatt entreissen konnte. Und bevor die Geschichte entstehen konnte, musste es nur noch rasch in Essig-Sekandjebin-Tinte eingetaucht werden. Ein Kinderbasar fand jeweils vor der Schule statt. Im Grunde auf einem einzigen winzigen Tisch, im Frühling waren es auch zwei. Dort konnte man getrocknete Tamarinden kaufen, die indische Dattelpalme, die ganz schön sauer plastifiziert wurde. Also biss man eine kleine Ecke der Plastikhülle ab und sog – ach, dieses infantile Saugen immer und überall! – die Tamreh hendi mit ihren weichen flachen Samen in den Mund. Verzog das Gesicht, liebkoste den zarten Kern mit der Zunge und spuckte ihn in die Luft. Oder es gab Lavashak. Im Internet kommt es 350 000 Mal vor. Mindestens. In der Kindheit, nur vor dem Schulhaus. Lavashak ist ein flach asphaltierter Fruchtriegel und weist teerähnliche Muster und häufig eine roströtliche Farbe auf. Allerdings musste die Lieblingssorte der Kinder aus einer säuerlichen Frucht stammen: Sauerkirschen und Pflaumen gaben sich also bei der Herstellung die Klinke. Hier war nichts mit Spucken, es wurde also eifrig geschleckt. Fast alles, was die Kindheitsfreuden ausmachte, war sauer oder hatte Steine. Die Artillerie der Steine und Kerne aller Art, die vom Busfenster aus die Zivilisten erreichte, war beeindruckend. Aber Napoleon war schon tot. Immerhin hatte er sich in eine köstliche Cremeschnitte verwandelt, in die sogenannte Napoleonschnitte. Leider war diese keine Pausenhoftrouvaille.
Manchmal sitzt das Gehirn unter der Zunge, manchmal ist es in der Nase auf der Lauer. Aber hauptsächlich amtet das Gehirn auf der Zunge. Es atmet dort. Was aufs Gleiche hinauskommt. Fragt sich bloss, was dem Gehirn die Luft sein könnte. Oder ob wir mit ihm immer die Madeleine teilen wollen. Jedenfalls sieht es so aus, als ob die prächtigen Gefiederfarben des Sternbildes nur vom Heimatland der Erinnerungen aus so leuchtend wirken. Trost für alle Heimwehsüchtigen! Und das in einem Land, in dem das Heimweh erfunden wurde! *
Manchmal, das ist doch das Wahnzimtige an den Sehnsüchten, scheinen diese gar nicht auf Erfüllung aus zu sein. Bei allen seelischen Verrenkungen, endlosen Tunnelfahrten und Magenverstimmungen. Bei allen Petitionen-Arien und Süsswassertränen – wehe also, böte mir einer getrocknete Tamarinden an!
* Das Krankheitsbild Nostalgia wurde unter diesem Namen im Jahre 1688 von einem Arzt in Basel beschrieben. Man kennt es auch, Ironie des Schicksals, unter der Bezeichnung Schweizer Krankheit (lat. morbus helveticus). Noch im Jahr 1909 schrieb der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers eine Dissertation mit dem Titel «Heimweh und Verbrechen» – Heimweh: eine Depression, die die Betroffenen u.a. völlig gleichgültig gegenüber allem Neuen machte und sich häufig in der Unfähigkeit zur Arbeit, in sprachlicher Hemmung sowie Verschlossenheit äusserte. Es galt zu jener Zeit als Krankheit. Jaspers persönlich bezweifelte, dass eine Bekämpfung der Heimwehverstimmung Erfolg haben könne.
Kathy Zarnegin
Die Autorin wurde in Teheran geboren und kam mit 14 Jahren in die Schweiz. Sie ist Lyrikerin, Essayistin, Übersetzerin aus dem Persischen und Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel. 2017 erschien ihr Roman «Chaya» bei Weissbooks.