kulturtipp: Frau Bochsler, wieso berichten Sie gerade über den Esel?
Katharina Bochsler: Ich sah eine Kunstperformance, in der eine Schauspielerin ein Wüstentier spielte – ein Kamel, wie ich glaubte. Aber nein, es war ein Esel.
Ein Esel in der Wüste?
Genau, der Esel ist ursprünglich ein Wüstentier, was mir damals nicht bewusst war. Das hat mein Interesse an dem Tier geweckt.
Aha.
Ja, das erklärt etwa, warum das arme Tier stehen bleibt, wenn es Angst hat. In der Wüste ist es sinnlos, davonzurennen. Das braucht in der Hitze zu viel Energie und würde die Aufmerksamkeit von Beutetieren wecken.
Und das reicht thematisch für einen ganztägigen «Hörpunkt» im Radio?
Man kann natürlich nicht sechs Stunden lang über knuffige Eselchen sprechen. Weil der Esel ein Nutztier ist, sagt seine Geschichte viel über uns Menschen aus. Menschen- und Esellogik laufen einander ja oft zuwider. Darunter leidet der Esel mehr als der Mensch. Da hilft es ihm nicht, dass er ein duldsames, tapferes und starkes Tier ist. Im Gegenteil: Der Esel wird gequält wie kaum ein anderes Tier.
Der Esel mag ja vor 100 Jahren noch eine Bedeutung gehabt haben, ist heute aber vergessen.
Ja, bei uns schon, weil die Landwirtschaft mechanisiert ist. Aber in vielen Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens ist er nach wir vor ein überlebenswichtiges Tier im Alltag der Menschen, denn er kann sehr viel schleppen. Bei uns ist er wieder entdeckt worden, zum Beispiel als Psychotherapeut oder als äusserst trittsicherer Entwicklungshelfer in Erdbebengebieten.
Wann sind Sie das letzte Mal einem Esel begegnet?
Vor zwei Wochen, ich habe die Poitou-Esel aus Westfrankreich in den Basler Langen Erlen besucht. Eines der Tiere ist auf mich zugetrottet, und ich habs gestreichelt.
Was hat der Esel dazu gesagt?
Nicht viel, aber er hat mich vielsagend angeschaut.
Haben Esel eine Seele?
Natürlich, schauen Sie mal einem in die Augen.
Essen Sie auch so gerne Eselsalami aus den Savoyer Alpen?
Ich selber esse kein Fleisch. Fleischproduzenten behaupten, in der Salami sei heute kein Esel mehr. Tierschützer sagen das Gegenteil.
Ist der Esel für Sie eine Metapher für eine tiefere Einsicht?
Ja, mich treibt die Frage um, warum wir Menschen ein Tier nicht wertschätzen, das sich nicht wehrt. Der Esel ist bescheiden, braucht nicht mal Gras. Er bockt höchstens mal.
Oder er schlägt aus.
Ja, oder sie beissen, aber das höchst selten. Ein normaler Esel bleibt einfach stehen, wenn er nicht mehr weiter will. Wir schätzen diese Duldsamkeit nicht, obgleich uns Menschen ja gerade diese Eigenschaft dient.
Radio
«Hörpunkt»-Tag
Mo, 2.11., ab 09.00 Radio SRF 2 Kultur