Es ist ein hochsommerlicher Dezembermorgen im Jahr 2048, und im Berner Bundeshaus wird in wenigen Momenten die erste künstliche Intelligenz als Bundesrätin vereidigt. Da sie keine Beine hat, muss sie dazu von einem Weibel durch den grossen Saal gestossen werden. Das quietscht und rattert und erinnert an einen Hellraumprojektor, der im Klassenzimmer installiert wird. Doch diese Zeiten sind zum Glück vorbei. KIs haben nicht nur das Klassenzimmer erobert, sondern sind nun auch in Wirtschaft und Politik angekommen.
In anderen Ländern sind neuronale Netzwerke bereits fest in den Regierungsalltag eingebunden. Man denke an den niederländischen Supercomputer Thinkdängg, das japanische Elektronenhirn Hello-Kitty oder die Robo-Regenten des britischen Königshauses. Die Schweiz bildete bisher das Schlusslicht (zusammen mit Nordkorea und der texanischen Maga-Theokratie). Sogar der Vatikan war schneller – mit der Einführung des vollautomatischen Technopapstes und dem Bezahlabo für das Leben nach dem Tod in der Cloud. Aber nun ist es endlich auch bei uns so weit.
Der ausscheidende Bundesrat Jonas Projer (FDP) wird nicht durch einen Menschen ersetzt, sondern durch eine KI mit dem Namen Yves Exécute (KI). Bereits im ersten Wahlgang hat sie sich gegen ihren menschlichen Kontrahenten DJ Antoine (SVP) durchgesetzt. Gewählt wurde sie von Mitgliedern aus allen Parteien – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Mitgliedern der Grünliberalen hat die KI exponentielles Wirtschaftswachstum und High-Speed-Diplomatie versprochen. Der SP hatte sie versprochen, die seit Jahrzehnten festgefahrenen Verhandlungen mit der EU wieder aufzunehmen.
Und die Grünen, die selbst noch nicht im Bundesrat vertreten sind, hoffen, dass durch die KI zumindest eine vernunftbegabte Stimme in die Exekutive einzieht. Die letzten Schaulustigen drängen aus der Wandelhalle in den grossen Saal. Der Bildschirm von Yves Exécute (KI) erwacht zum Leben. Darauf hebt sich eine digitale Hand zum Eid und eine geschlechtslose Stimme verkündet: «Ich schwöre vor Gott dem Allmächtigen, die Verfassung und die Gesetze zu beachten und die Pflichten meines Amtes gewissenhaft zu erfüllen.» Applaus. Ein historischer Tag. Und fast wäre es nicht dazu gekommen.
Denn gross waren die Sorgen im Vorfeld zur Wahl. Das ganze Land debattierte über die Vor- und Nachteile einer digitalen Magistratin. Soll man einer KI so viel Macht geben? Darf eine Maschine über Menschenleben entscheiden? Und was, falls sie mal einen Fehler macht – muss sie des Amtes enthoben werden oder reicht ein Neustart? Und letztlich die philosophischste Frage aller Fragen: Ist eine künstliche Intelligenz wirklich intelligent, oder tut sie nur so? Eine Frage, die allerdings schnell als irrelevant abgetan wurde, als man realisierte, dass man sie bei menschlichen Politikern auch nicht abschliessend beantworten kann.
«Wehret den Anfängen!», mahnte Alt-Bundesrat Marco Pfeuti (SVP) und prophezeite bereits ein allgemeines Wahlrecht für Haushaltsgeräte. Wo kämen wir hin, wetterte er, wenn plötzlich jede neunmalkluge Waschmaschine und jeder empathische Kaffeeautomat in der Politik mitmischen könnte? Das KI-Referendum wurde dem Volk vorgelegt. Da zu jener Zeit gerade mehrere Politiker wegen Affären und Korruptionsfällen in den Schlagzeilen standen, wurde die leidenschaftslose Unmenschlichkeit eines KIBundesrates nicht als Makel wahrgenommen, sondern als Qualität. Das Volk entschied sich mit einer überraschenden Mehrheit für die Einführung künstlich intelligenter Bundesräte.
Aus Sicherheitsgründen und um nicht von ausländischen Firmen abhängig zu sein, mussten die Bestandteile der KI im ganzen Land zusammengesucht werden. Ihr Prozessor stammt aus Lausanne, ihr Arbeitsspeicher aus Lugano und ihre Software aus Bern. Ein positiver Nebeneffekt dieses Flickwerks: Kein Bundesrat hat die verschiedenen Sprachregionen bisher besser vertreten. Demensprechend zusammengewürfelt sieht die digitale Bundesrätin aus.
Ein Sammelsurium an Lämpchen, Platinen und Kabeln. Und auf der Rückseite eine kleine Kurbel, mit der sie auch im Falle eines Blackouts mit Strom versorgt werden kann. Yves Exécute (KI) ist kein elegantes Apple-Produkt, sondern ein Kompromiss, an dem lange gebastelt wurde. Und so sieht sie auch aus. Technisch gesehen ist Yves Exécute (KI) nichts Neues. Ihre Software besteht aus einer Kombination von grossen Sprachmodellen, die von einem systematisch denkenden Logikzentrum, dem Hyperthalamus, koordiniert und kontrolliert werden.
Dieses Zentrum hat in erster Linie die Aufgabe, die verschiedenen Sprachmodelle vom Halluzinieren abzuhalten und an die Realität zu binden. Einen Internetanschluss hat Yves Exécute (KI) nicht – nicht, um sie vom Prokrastinieren abzuhalten, sondern um die Gefahr eines Hackerangriffes zu minimieren. Yves Exécute funktioniert vollkommen autonom.
Neue Inhalte müssen ihr täglich vorgelesen werden, was unglaublich ineffizient erscheinen mag, aber laut Datenschutzexpertinnen der einzige Weg ist, ihre Unbefangenheit zu gewährleisten. Die Vereidigung ist zu Ende. Auf ein Bad in der Menge auf dem Bundesplatz verzichtet Yves Exécute (KI). Nach einem schnellen Gruppenfoto mit ihren menschlichen Kollegen macht sie sich bereits an die Arbeit.
Sie liest Dossiers und entwirft Szenarien für das Land mit einer Geschwindigkeit, die keine menschliche Bundesrätin jemals erreichen könnte. Und während sich die Presse auf den Heimweg macht und sich die vereinigte Bundesversammlung in den Apéro stürzt, bleibt im Bundeshaus nur noch eine zurück: Yves Exécute (KI), die erste Bundesrätin der Schweiz, die auch am Wochenende arbeitet. Kein Bundesrat war bisher so neutral, so unparteiisch, so dossierfest. Und keiner konnte so gut Englisch.
Karpi
Patrick Karpiczenko wurde 1986 in Bern geboren. Der Satiriker war Miterfinder und Showrunner der SRFLate-Night-Show «Deville» und Co-Produzent des Spielfilms «Die fruchtbaren Jahre sind vorbei». Sein «Kulturplatz»-Spezial zum Thema künstliche Intelligenz wurde Anfang Mai auf SRF 1 ausgestrahlt. Aktuell entwickelt er eine KI-Fernsehserie – der hier erschienene Text ist eine erste Vignette, die im Kontext dazu entstanden ist.