Plötzlich war alles Makulatur. Anderthalb Jahre Arbeit wurden zumindest infrage gestellt. Doch aufgeben war keine Option für Karolin Trachte, seit 2018 Kuratorin der Festspiele Zürich. Nur wenige Wochen nach dem Stillstand präsentieren diese ein neues Programm: Aus den Festspielen Zürich sind die Festspiele X geworden mit immer noch 30 beteiligten Institutionen. «Ein gutes Gefühl», sagt die 35-jährige Deutsche. «Der Aufwand aber, nochmals bei null zu beginnen und dann schnell genug wieder auf Tempo zu kommen, war gross.»
«Der anfängliche Frust hat sich in Fantasie gewandelt»
Das «X» steht für Experiment. Mit einer Mischung aus digitalen und analogen Veranstaltungen wird das Festival seinem Motto «Rausch des Jetzt» gerecht. «Wir haben eine explosive Lernkurve hinter uns», sagt Trachte. «Der anfängliche Frust hat sich in Fantasie und Experimentierfreude gewandelt.» Eine geplante Open-Air-Revue etwa findet nun als filmisches Essay statt. Das Tonhalle-Orchester spielt mit Kleinensembles in Hinterhöfen. Das Gastspiel des Deutschen Theaters aber wurde Opfer seines Titels: «It can’t happen here» findet tatsächlich nicht statt.
Karolin Trachte blickt ohne Gram auf die letzten Wochen zurück. «Es war beeindruckend, wie motiviert und agil das ganze Team unter erschwerten Bedingungen arbeitete», sagt sie. Überhaupt sei ihr das Modell Festspiele Zürich ans Herz gewachsen. «Der Brückenschlag zwischen grossen und kleinen Häusern ist ein zukunftsträchtiger Ansatz. Und der Schritt hin zum Publikum stellte uns vor Fragen, die viele Institutionen gerade jetzt noch vor sich haben.»
Solche Herausforderungen liessen die studierte Dramaturgin zu den Festspielen wechseln. Zuvor hatte Trachte an Theatern in Barcelona, Hamburg oder Berlin gearbeitet, zum Schluss am Schauspielhaus Zürich.
Kultur auf hohem Niveau und nah beieinander
Nach anfänglichem Kulturschock habe sie sich in die Zürcher Kulturszene regelrecht verliebt, erinnert sie sich. «Das Schöne hier ist die Dichte. Alles geschieht auf hohem Niveau und nahe beieinander. Dadurch werden die Möglichkeiten des Machbaren grösser. Zuweilen spürt man aber auch eine Enge.»
Karolin Trachte wurde für eine Festspiel-Ausgabe engagiert, hätte aber nichts gegen eine Verlängerung gehabt. Doch 2020 finden aus finanziellen Gründen die letzten Zürcher Festspiele statt. Dies bedauert sie aus Sicht der Zürcher Kulturschaffenden. Sie selbst aber kann sich freuen: Ihr Weg führt sie zurück zum Theater, als Dramaturgin beim Berliner Ensemble. Und sie gesteht unumwunden: «Ich sehne mich schon nach der Grösse und Rauheit der dortigen Szene.» Und auf Fragestellungen, die sie in jüngster Zeit schon beschäftigt hätten.
Festspiele X
Bis So, 28.6., online und an diversen Orten in Zürich
www.festspielex.ch
Karolin Trachtes Kulturtipps
ZEITUNG
Carolin Emcke: Corona-Tagebuch in der «Süddeutschen Zeitung» (www.projekte.sueddeutsche.de)
«Eine wichtige und gute Alternative zur Nachrichten-Sucht, von der man sich ja Stück für Stück wieder entwöhnt hat. Emcke schreibt persönlich und trotzdem mit einer Fähigkeit, das grosse Ganze zu fassen.»
BUCH
Leila Slimani: Dann schlaf auch du (Luchterhand 2017)
«Der Roman der französisch-marokkanischen Autorin hat fast Qualitäten einer antiken Tragödie, ist dabei packend und absolut abgründig.»
STREAMING
www.mubi.com
«Für eventuell regnerische Sommerabende empfehle ich als Alternative zu Netflix mubi.com und dort den Jim-Jarmusch-Schwerpunkt.»