Ich habe meine Kindheit in einem Land verbracht, in dem man abstrakte Dinge nicht erklärte, sondern in Geschichten verpackte. Sie handelten von Gut und Böse, von Freund und Feind, von uns und den anderen. Es war nicht wichtig, was wahr und was erfunden war. Man erzählte Geschichten, um die Vergangenheit zu bewahren, die Gegenwart zu begreifen und die Zukunft zu erhellen.
Es war einmal ein kleiner Junge, der musste eine Weile in einem Waisenheim leben. Eine Erzieherin zwang ihn, auf Maiskörnern zu knien. Das tat höllisch weh. Die Erzieherin wartete darauf, dass der Junge sie anflehte, aufstehen zu dürfen, denn das wäre ihr Triumph gewesen, darauf war sie aus. Aber der Junge erzählte sich die Geschichte von einem Ritter, der gegen den Drachen zu kämpfen hatte. Für diesen Kampf musste er abgehärtet werden, und dafür hatte er eine Ausbildnerin. Sie stand in seinen Diensten und tat nur, was er ihr aufgetragen hatte. Der Schmerz in den Knien wurde erträglich, weil er nicht länger sinnlos war.
Eine der wichtigsten Geschichten meiner Kindheit war jene vom Grossen Volksbefreiungskrieg, in dem die Kühnheit einiger Wenigen über die diabolische Schlechtigkeit aller anderen gesiegt hatte. Wir durften die Geschichte nicht infrage stellen. Aber wir schoben sie unter jene heiteren Geschichten, die wir uns im Familienkreis erzählten. So durfte sie ihr Gewicht behalten, nicht aber ihren Ernst. Als der Protagonist 1980 starb, kam für eine kurze Zeit jenes Pathos wieder auf, das man bis dahin erfolgreich kleinerzählt hatte.
Ein paar Jahre später hätte das Land dringend gute Geschichten gebraucht, doch man überliess die Bühne fantasielosen Verbrechern, die weder ein Gefühl fürs Timing noch für die Pointe hatten.
Es war einmal ein kleines Mädchen. Seine Grossmutter band eine Schnur um ein Stück Holz und sagte, das sei ein Pferd. Nach ein paar Tagen wurde das Pferd vom Holpern über die unebene Wiese müde, und so drückte die Grossmutter dem Mädchen einen Zweig mit einer Gabelung in die Hand. Das war dann ein Motorrad, die Gabelung war wahlweise die Bremse oder die Kupplung. Später baute die Grossmutter ein Flugzeug und das Mädchen flog herum, bis es zu gross und das Flugzeug wieder zu einer Kartonschachtel wurde.
Wo kommen Geschichten her? Solange wir Kinder sind, vermutlich aus dem Spiel oder aus dem Bedürfnis, Unbegreifliches zu begreifen. Wenn wir grösser werden, gesellt sich die Erinnerung dazu. Indem wir uns erinnern, definieren wir unsere Beziehung zur eigenen Vergangenheit und – indirekt – zur eigenen Vergänglichkeit. Dabei lassen wir ausser Acht, dass unser Gedächtnis tückisch ist. Es nimmt zu viel Rücksicht auf unsere Einstellung zum Ereignis und auf den Zusammenhang, in den wir dieses Ereignis hineinstellen. Max Frisch meinte, wir würden uns eine Geschichte nehmen und sie für unser Leben halten. Den berühmten Gedanken kann man auch umkehren: Indem wir von unserem vermeintlich wirklichen Leben erzählen, verwandeln wir es in eine Geschichte. Das geschieht im Alltag, und das geschieht in der Literatur. Man erfindet und erinnert erzählbare Erlebnisse, gewährt dem einen Fundstück viel Raum, erwähnt das andere nur so knapp, wie unbedingt nötig, verschweigt das dritte, weil es keinen Beitrag zur Sinnhaftigkeit des Ganzen leistet. Dann sucht man nach Verbindungen, Übergängen, Schlussfolgerungen, Pointen, und bei alledem kümmert man sich nicht darum, wie es damals war, sondern wie es sich einem jetzt erschliesst. Wer sich erinnert, verwandelt Wirklichkeit in Fiktion. Wer erzählt, verwandelt Fiktion in Wirklichkeit. Jede erfundene Geschichte beruht auf einer Erinnerung. Jede Erinnerung wird durch das Erzählen zu einer Erfindung.
Es war einmal ein Läufer, der schon als Kind jedes Rennen gewann und manchmal sogar absichtlich langsamer lief, um seine Konkurrenten nicht zu demütigen. Er hatte viele Medaillen und Pokale, seine Mutter klebte Meldungen über ihn in ein grosses Album, und der Präsident lud ihn in seinen Palast ein. Der Läufer genoss den Ruhm. Nur manchmal, in seinen dunklen Stunden, da fürchtete er, dass man hinter sein Geheimnis kommen und ihn verstossen würde. Sein Geheimnis war die Geschichte von einem kleinen, roten Rennauto, die er sich vor jedem Start erzählte. Er sass darin, hörte den Motor brummen und spürte dessen Kraft
in den Oberschenkeln. Beim Startsignal drückte er aufs Gaspedal, der Autoboden war weit, das Pedal senkte sich immer tiefer, er rannte immer schneller. Nach der Ziellinie schaltete er runter und liess den Motor noch einmal aufheulen. Aber nur kurz, um den Applaus nicht zu verpassen.
Das Wunderbare an der Sprache ist nicht das Benennen von Dingen um uns herum. Das kann man auch mit bescheidenen Sprachkenntnissen, Tarzan hatte es mit seinem «Ich Tarzan, du Jane» immerhin zum König des Dschungels gebracht. Das Wunderbare ist, dass wir mithilfe der Sprache unseren Platz im Raum und in der Zeit definieren. Wir bewegen uns in den Kategorien von links und rechts, oben und unten, Bewegung und Stillstand, und das in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Wir suchen die Perspektive, den Aussichtspunkt, von dem aus wir auf Dinge um uns herum und auf uns selbst blicken. Wenn wir erzählen, erschaffen wir darüber hinaus neue Perspektiven, entwerfen neue Welten, knüpfen neue Verbindungen, senden Signale aus, um nicht in die totale Einsamkeit abzurutschen.
Es war einmal ein Grossvater, der seinem Enkel eine schöne Schaukel gebaut hatte. Sie hing an einem Nussbaum, der Schatten um ihn herum war dunkelgrün. Wenn man fliegen wolle, sei die Schaukel das Zweitbeste auf der Welt, sagte der Grossvater.
«Und das Allerbeste?», fragte der Enkel.
«Komm, steig auf meine Schultern», sagte der Grossvater.
Karl Rühmann
Karl Rühmann wurde 1959 als Mladen Jandrlic in Jugoslawien geboren und hat ab 1976 in den USA gelebt. Er studierte Germanistik, Hispanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Zagreb und Münster. Heute lebt er in Zürich als Autor und Literaturübersetzer. Sein Roman «Der Held» über Kriegsverbrecher und eine Kriegswitwe war 2020 für den Schweizer Buchpreis nominiert.