Wer die Bücher von Karl Ove Knausgard gelesen hat, kennt vermeintlich jeden Seelenwinkel des norwegischen Autors. Auf rund 3500 Seiten beschreibt er in seinem sechsbändigen Werk detailreich sein ganz normales Leben: Seine Gedanken und Ängste, seine Zweifel und seine Beziehungen zu Familie wie Freunden. Er leidet unter einem Geltungsdrang und hegt gleichzeitig den Wunsch, im Verborgenen zu bleiben. Sterbenslangweilig könnte diese Lebensbeichte mit minutiös beschriebenen Alltags-Szenen für die Leserschaft sein – aber der 47-jährige hat mit seinem Werk den literarischen Siegeszug vom Norden in die Welt angetreten. Dem Sog seiner Bücher verfallen die Schweden genauso wie die Amerikaner oder die Schweizer.
Manisches Schreiben
«Min Kamp» nennt der Schriftsteller sein Werk provokativ. «Kinder grossziehen, einen Elternteil verlieren, Beziehungsprobleme, das ist doch unser Kampf», sagte der Norweger in einem Interview mit dem TV-Sender 3sat. Um diese Themen geht es in seinen Bänden, an denen er «manisch» drei Jahre lang geschrieben hat. Auf Deutsch wurden die einzelnen Bände umbenannt: Nach «Sterben», «Lieben», «Spielen», «Leben» erscheint nun «Träumen». Trotz des autobiografischen Stoffs bezeichnet Knausgard seine Werke als Romane. «Ich könnte genauso gut eine andere Version meines Selbst erzählen», betonte er gegenüber der «Zeit». Im Gespräch mit der «Sonntagszeitung» präzisierte er: «Was im Buch ist, ist wirklich.» Und: «Es war ein Experiment über die Grenzen zwischen Literatur und Leben.»
Zurück zu den Wurzeln
In «Träumen» geht Knausgard dorthin zurück, wo er dem exzessiven Schreiben verfiel: in die norwegische Küstenstadt Bergen, wo er als Jungspund von 1988 bis 2002 seine ersten literarischen Schreibversuche machte. «Ich wusste so wenig, wollte so viel, brachte nichts zustande. Aber in welch einer Stimmung ich war, als ich dort ankam!», resümiert der Autor im Buch. Mit 19 Jahren war er als Jüngster an der Akademie für Schreibkunst in Bergen aufgenommen worden. Auf das Hochgefühl folgt bald die Verzweiflung, nicht zu genügen, vor den andern nicht zu bestehen.
Hadern mit sich selbst
Diese Wechsel von Euphorie zu tiefen Selbstzweifeln ziehen sich durch das ganze Werk. «Ich hatte eine Erkenntnis gewonnen. Ich bezahlte einen hohen Preis für sie, aber sie war wichtig und wahr: Ich war kein Schriftsteller. Was Schriftsteller hatten, das hatte ich nicht.» Solche Unsicherheiten spürt er nicht nur beim Schreiben, sondern genauso bei der Liebe. Denn auch damit hadert der Student, der beim Anblick einer attraktiven Frau verstummt. Sich selbst sieht er nur als Anhängsel des grossen Bruders Yngve, zu dem er bewundernd aufblickt. Umso schlimmer, als sich Yngve in dieselbe Frau verliebt und dieser näherkommt, als Karl Ove es sich jemals zu erträumen gewagt hätte. Die angestaute Wut darüber entlädt sich viel später in einem Gewaltakt, den er im Alkoholrausch gegen seinen Bruder ausübt. Damit endet der erste Teil.
Im zweiten Teil zweifelt der angehende Schriftsteller zwar immer noch an sich selbst und gibt sich Alkoholexzessen hin. Aber der jugendliche Überschwang der Gefühle pendelt sich langsam ein, er führt eine erste Beziehung und findet nach dem Jobben in Psychiatriekliniken oder auf einer Bohrinsel zum Schreiben zurück. «Etwas anderes als schreiben, erschien mir sinnlos. Nichts sonst würde meinen Durst stillen», hält er fest. Als er nach einem Literaturstudium endlich den Schritt schafft und in einem Zug einen Roman niederschreibt, ist er wenig überrascht, dass dieser im «Dagbladet» hymnisch besprochen wird. Der Weg vom Selbstzweifel zur Euphorie ist bei Knausgard ein kleiner Schritt – und bald folgt wieder der Absturz.
Die Unsicherheit bleibt
Noch heute ist der preisgekrönte Autor sich seines Könnens nicht sicher. Offensichtlich ist er aber bereit, für sein Schreiben einen hohen Preis zu bezahlen: Seine erste Ehe ging in die Brüche, weil er das Schreiben mehr liebte. Seine zweite Ehe mit vier Kindern ist schwierig, zumal sich alle Familienmitglieder in seinen Romanen wiederfinden. Selbstbezogen? Narzistisch? Solchen Kritiken nimmt Knausgard den Wind aus den Segeln, indem er sich gleich selbst so bezeichnet.
Und was macht nun den Sog aus, in den die Leser gezogen werden, sofern sie sich die Zeit nehmen, abzutauchen in den 800-seitigen Roman? Mit seiner radikalen Selbstentblössung geht Knausgard zwar in manchen Szenen bis an die Schmerzgrenze. Doch er gewährt einen tiefen Einblick in die männliche Seele, hinter die schweigsame Fassade. Und er fängt ganz nebenbei die Atmosphäre der 80er und 90er ein.
Blick von aussen
Lieben, leben, sterben, spielen, träumen: Damit spricht Knausgard menschliche Grundthemen an, angereichert mit philosophischen oder literarischen Gedanken. Er bietet Identifikationspotenzial und doch einen Blick von aussen auf die Ambivalenz von Gefühlen, auf das menschliche Scheitern. Der historisch belastete Original-Titel «Min Kamp» ist also treffend, auch wenn Knausgard ihn ganz anders auslegt: der Kampf mit dem Leben, dem Alltag, der Vergangenheit, den Liebsten – und vor allem mit sich selbst.
Buch
Karl Ove Knausgard
«Träumen»
800 Seiten
(Luchterhand 2015).