So viel Stress aufs Mal gibt es nicht: Die angesehene Familienrichterin Fiona Maye am Londoner High Court muss innert Tagen entscheiden, ob einem jungen Leukämie-Patienten eine Bluttransfusion verabreicht werden darf. Gegen seinen eigenen Willen allerdings und denjenigen seiner Eltern, die Zeugen Jehovas sind. Gleichzeitig eröffnet ihr Ehemann Jack, ein Historiker, dass er die gemeinsame Wohnung verlässt, um sich einer «jungen Statistikerin» zuzuwenden. Das ist ein bisschen viel aufs Mal, selbst für eine erfahrene Juristin.
Recht und Moral
So die Ausgangslage in Ian McEwans Roman «Kindeswohl», der soeben erschienen ist. Richterin Fiona meistert all das Unglück mit einer gewissen Würde und kann die berufliche Anspannung von der privaten Unbill trennen. Sie kniet sich intensiv in den komplizierten Gerichtsfall: «Sie fühlte sich zusammengeschrumpft auf einen geometrischen Punkt, auf ein nervöses Pflichtgefühl. Das Urteil musste bis morgen fertig sein; ihr Privatleben bedeutete nichts.»
In der Folge kommt es zur spannendsten Episode dieses Buchs: Denn aus Sicht des Lesers ist der Fall «Adam Henry» zwar sonnenklar. Das Kindeswohl ist wichtiger als die weltanschauliche Überzeugung der Eltern. In der Gerichtsverhandlung gewährt McEwan jedoch dem Anwalt der Eltern eine faire Chance, seine unhaltbare Position zu vertreten. Er behauptet, der Junge entscheide aus freiem Willen über sein Schicksal: «Es geht hier nicht um Medizin. Sondern um Recht und Moral. Um die unveräusserlichten Rechte eines jungen Mannes.»
Sowohl-als-auch
Man kennt dieses Sowohl-als-auch bei McEwan. In seinem Roman «Saturday» liess er die Befürworter des Irak-Kriegs ihre Position erklären, die heute wie damals auf schwachen Füssen steht. Und in «Solar» kommen die Klimaskeptiker ebenso wie die Warner vor einer Erderwärmung ausführlich zu Wort. Der Leser spürt allerdings stets, auf welcher Seite der Autor letztlich steht. Aber er legitimiert seine Position, indem er der Gegenseite das Recht auf Argumente zugesteht – wie in einem Gerichtsfall. In «Kindeswohl» ist diese Fairness des Autors bemerkenswert, weil er sich als bekennender Atheist versteht und «keinerlei Geduld mit Religiösen» kennt, wie er in Interviews sagt.
Familienrichterin Fiona Maye entscheidet sich wenig überraschend für das Kindeswohl des fast volljährigen Patienten und gegen seine religiöse Überzeugung. Doch damit handelt sie sich unerwartete Schwierigkeiten ein. Nicht genug damit: Auch die Beziehungskrise mit ihrem Mann nimmt keine Wende zum Besseren. Fiona hat als Richterin zwar Macht über das Schicksal anderer, nicht aber über das eigene.
Die Anlage des Romans ist offenkundig konstruiert. Auch setzt McEwan wie in der Novelle «Am Strand» über eine desaströse Hochzeitsnacht auf konfitürendicke Emotionalität, die streckenweise an Kitsch grenzt. Etwa, wenn die Richterin mit dem Patienten auf dem Krankenlager zum Singen von W.B. Yeats’ «Down By The Salley Gardens» anhebt. Da kommen selbst treue McEwan-Anhänger ins Grübeln, sofern sie nicht zum Sentimentalen neigen.
Milieuschilderung
Dennoch hat der Roman Qualitäten: McEwan versteht es wie immer vorzüglich, das Milieu des englischen Mittelstands zu schildern. Das Ehepaar Fiona und Jack in der Krise erscheint dem Leser überzeugend, so überzeugend, dass sich Ian McEwans frühere Ehefrau bei einer öffentlichen Lesung beklagte, dass er literarisch aus dem Erfahrungsfundus ihrer gescheiterten Beziehung schöpfe. Zumindest für den Aussenstehenden sind auch Beschreibungen aus dem Alltag im Justizwesen plausibel mit all den Rankünen und Eifersüchteleien. McEwan hat wie bei seinen früheren Werken intensiv recherchiert. In diesem Fall war ihm ein pensionierter Richter Vorbild, «ein Mann von grosser Weisheit, funkelnder Intelligenz und Menschlichkeit», wie es im Nachwort heisst.
Gespaltene Kritik
Natürlich schreibt der Autor in diesem Buch nur von spektakulären Fällen, wie sie selten passieren. Etwa, als Fiona in einem ähnlichen Fall wie «Henry Adam» über das Weiterleben zusammengewachsener Neugeborener entscheiden muss: Nur ein Kind ist überlebensfähig; werden sie nicht getrennt, sterben beide. Die Eltern, überzeugte Katholiken, wehren sich gegen den operativen Eingriff, weil sie überzeugt sind, diese Prüfung Gottes bestehen zu müssen.
In Grossbritannien ist «Kindeswohl» erwartungsgemäss auf unterschiedliches Echo gestossen, denn McEwan polarisiert in seiner Heimat. Der konservative «Daily Telegraph» wirft dem Autor vor, die Geschichte zu sehr verbogen zu haben. Der linke «Guardian» dagegen findet die Handlung besser nachvollziehbar als in andern Romanen. In jedem Fall fehlt «Kindeswohl» die Intensität und die Raffinesse von McEwans letztem Roman «Honig», auch wenn das Lesevergnügen wiederum gross ist.
Buch
Ian McEwan
«Kindeswohl»
242 Seiten
(Diogenes 2015).
Radio
«Buchzeichen»
So, 11.1., 14.06 Radio SRF 1
Film
«Atonement» («Abbitte»)