Um zehn Uhr morgens kommt eine ältere, sorgfältig gekleidete Frau mit geschminktem und gepudertem Gesicht langsam, gestützt von einer jungen Philippina, durch die Türe hinein. Sie bestellt bei mir einen Hafuch (1) mit einem Glas Wasser dazu und fragt mich, ob ich hier neu sei. Ich nicke. Meine Chefin zwinkert mir zu, als sie an mir vorbeigeht; sie begrüsst die Frau und stellt zwei weisse Plastikstühle an den Tisch heran.
«Das sollst du immer machen, wenn sie kommt, die wartet nämlich auf ihre Freundinnen, das ist unser Wien-Berlin-Club», sagt sie zu mir auf dem Rückweg hinter die Theke.
Die alte Frau sitzt nun unruhig auf der Holzbank am Fenster und dreht sich leicht, um die Tür im Auge behalten zu können. Die zwei älteren Damen, die zehn Minuten später eintreffen, fragen mich, wie lange ich hier schon arbeite.
«Sie kennen uns nicht, ja?», fragt die grosse rosarote Sonnenbrille mit deutschem Akzent.
Als ich den Kopf schüttle, erzählt sie mir stolz, dass die drei sich schon seit über 20 Jahren hier im Café Mersand an der Ecke Frishman-Ben Yehuda treffen. «Seit über zwei Jahrzehnten!», korrigiert sie eine der beiden anderen Frauen auf Deutsch. «Dich kennen die Meltzarim (2) hier ja immer, obwohl die oft gewechselt haben. Du bist eine bekannte Marke.»
Ich beschliesse, ihnen nicht zu sagen, dass mein Vater ein Schweizer aus Zürich ist, und ich deshalb besser Deutsch verstehe, als sie ahnen.
Von der Theke aus kann ich das Gespräch der Frauen mitverfolgen, offenbar hören die drei nicht mehr gut, denn sie sprechen mit lauten Stimmen.
«Habt ihr Hunger?», fragt die Sonnenbrille aus den 70er-Jahren ihre Gesprächspartnerinnen.
Statt einer Antwort sagt die elegante Frau im dunkelgrünen Hosenanzug: «Meine Oseret (3) hat gestern einen schönen Kuchen gebacken, der war richtig gut, nicht zu trocken.»
«Da bist du zu beneiden», sagt die Sonnenbrille. «Meine kann nur ganz einfache Sachen. Die andere, die Illegale, die konnte kochen … Sie hat mir immer ganz viel vorgekocht.»
«Aber deine Neue ist eine sehr hübsche.»
«Ja. Sie ist sich bewusst, dass sie schön ist. Und die hat einen wunderschönen Chawer (4), der ist Offizier im Tsawa (5).»
«Das ist auch eine ziemlich schöne Rasse, so ein Chajal (6).»
Kurzes Schweigen.
«Die von der Nomi ist auch eine Christin.»
«Aber interessant, die Polen galten bei uns in Berlin als schmutzig. Aber sie …»
«Was soll ich ihr zu Weihnachten kaufen? Schokolade?»
«Ich hab ihr ein grosses Früchtebrot geschenkt, das kann sie auch nach Hause schicken.»
«Hast du hier schon einmal einen Käsekuchen gegessen, die backen wirklich ganz gute Ugot (7)? Ich hatte gestern einen, mit Rosinen – 25 Schekel.»
«24 Schekel», korrigiert sie die Sonnenbrille.
«24?»
«Ja, 24.»
«Wenn dus sagst …», zuckt die Frau im Hosenanzug die Schultern.
«Ich habe letzte Woche», sagt die Frau mit dem Goldschmuck, «im Supermarkt eine Crèmeschnitte gekauft. Die ist nicht geschnitten.»
«Nein?»
«Nein. Und sie ist gar nicht einfach zu schneiden. Man muss alleine schneiden. Von allen Seiten kriecht es raus!»
«Ja, in Wien gibt es Apfelstrudel und Torten, die sind wirklich gut …», sagt die Frau im Hosenanzug nachdenklich.
Zwei Gäste winken mir zu, weil sie zahlen wollen. Als ich das Tablett mit den leeren Gläsern an den alten Damen vorbeibalanciere, sagt die eine:
«Rémy? Man muss ein gutes Gedächtnis haben, um zu wissen, welche Karten rausgekommen sind.»
«Wie alt willst du werden?», fragt eine andere.
«Ich hab bestellt 90.»
«Mein Mann, Gott hab’ ihn selig, wurde 93.»
«Die Männer sterben früher als Frauen; unsere Bachurim (8) sind einfach nicht so stark.»
Dann schweigen sie wieder und lächeln mir zu, bis ich vorbeigegangen bin.
«Dieser Peretz (9)…», setzt die eine dann wieder an.
«… der hat keine personality», fährt die andere fort, «keine Bildung, er kann keine Sprachen, der ist so paschutt (10), er bringt es zu nichts.»
«Aber er hat doch studiert in Amerika», meint die dritte.
«Ja, Englisch kann er ein wenig …»
«Aber seiner Karriere hat seine Frau sehr geschadet.»
«Sie ist nicht gut angezogen, hat den Grössenwahn, im Kameri (11) ist sie die lauteste – aber es geht ihr gut, er verdient gut.»
«Er ist aber ein schöner Mann, gut aussehend.» Alle drei nicken.
«Ach», seufzt eine, «aber wir hatten einen Begin, eine Golda Meir, einen Ben Gurion, das waren Menschen!»
«Da hat es geschüttet, beim Begräbnis von Golda Meir …»
«Geregnet hat es, ja.»
«Sie hat gemacht, dass die Leute wissen, dass Frauen auch etwas verstehen.»
«Die Clinton macht das auch.»
«Ihr Mann ist heute noch in den Chadaschot (12); ha, wir sollen ihn nicht vergessen.»
«Der hatte doch diese Affäre mit der …»
«Lewinsky.»
«Mo-ni-ka Lewinsky.»
«War die Lewinsky gut für uns Juden?»
«Schwamm drüber. Aus jeder Fliege hat man einen Elefanten gemacht.»
«Seine Zeit ist jetzt um.»
«Er ist wenigstens anziehend – aber unser Präsident …»
«Die blöden Männer, sie lernen nicht, da kann man nichts machen. Da sind wir alle derselben Meinung.»
«Ja, das sind wir.»
Und zum ersten Mal bleibt es an dem Tisch ganz lange still.
Glossar
1 Hafuch = verkehrter Kaffee
2 Meltzarim = Kellner/Servicepersonal
3 Oseret = Helferin/Hilfe im Haushalt
4 Chawer = Freund
5 Tsawa = Militär
6 Chajal = Soldat
7 Ugot = Kuchen/Kekse
8 Bachurim = Junge Männer
9 Peretz = dte. Aussprache für Schimon Peres
10 paschutt = simpel/einfach
11 Das Kameri-Theater in Tel Aviv
12 Chadaschot = Nachrichten/News
Bettina Spoerri
Bettina Spoerri ist 1968 geboren, in Basel aufgewachsen und lebt heute in Zürich. Sie ist oft in Tel Aviv, einer Stadt, die sie fasziniert und inspiriert, auch zu Kurzprosatexten wie diesem hier. Kürzlich ist ihr Romandebüt «Konzert für die Unerschrockenen» (Braumüller Wien) erschienen. Bettina Spoerri leitet seit Anfang Oktober das Aargauer Literaturhaus in Lenzburg.
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