In einem verkommenen Bistro in Paris trifft der Student Roel auf die geheimnisvolle Théa. «Die Augen schwarz wie Pech, scheinbar bodenlos, Fenster in eine andere Welt.» Am nächsten Tag erkennt er in der Zeitung das Gesicht der Unbekannten wieder. Im Artikel geht es um eine gerade aus dem Gefängnis entlassene Kindsmörderin. Die Geschichte lässt ihn nicht mehr los. Und er beschliesst, Théa zu suchen.
Dialogreich und in bildhafter Sprache erzählt die 1990 in Rorschach geborene Anna Stern alias Anna Bischofberger in ihrem Debütroman «Schneestill» die Geschichte von Roels Spurensuche nach der vermeintlichen Mörderin im winterlichen Paris. Dank der Vorliebe für die nordische Kriminalliteratur treibt die angehende Umweltwissenschaftlerin die Handlung in spannungsgeladener Manier voran. Sie lässt den Protagonisten einem einsamen Fahnder gleich durch Paris flanieren, um Théa und ihrer Version der Wahrheit näherzukommen. Doch wer ist Théa, was ist eigentlich Lüge, und vor allem: Wie verhält es sich mit der Wahrnehmung eines Menschen?
Wie die Autorin gegenüber dem «St. Galler Tagblatt» ausführte, gab eine von ihr verfasste Kurzgeschichte den Anlass für das Schreiben dieses Romans. Und die Erkenntnis des Schweizer Psychiaters Anton Delbrück. Wie aus dem Einführungszitat zum Buch zu entnehmen ist, beschäftigte sich dieser im Jahr 1891 mit der Pseudologie, dem krankhaften Lügen – «einer Mischung aus Lüge, Wahnidee oder Erinnerungsfälschung». Heute gilt dieses Phänomen als Symptom einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung.
Wahrheit oder Lüge
Wahrheit, Lüge, Wahrnehmungsstörungen oder Realitätsverlust: Mit diesem Thema beschäftigt sich auch die 17-jährige Solomonica de Winter. In ihrem Debütroman «Die Geschichte von Blue» erzählt die Tochter des niederländischen Schriftstellerehepaars Leon de Winter und Jessica Durlacher die Geschichte des 13-jährigen Mädchens Blue. Deren Vater ist tot, die Mutter kokainsüchtig. Blue, seit dem Tod ihres Vaters verstummt, findet einzig Trost im Buch «Der Zauberer von Oz». «Ich weiss, sie glauben, ich sei besessen … Mein Buch ist echt, mit echten Menschen und Wesen, echten Bäumen, echten Blumen. Wenn Sie die Augen fest genug schliessen, können Sie sie durch den Buchdeckel riechen», schreibt sie in einem ihrer Briefe, in denen sie zu erklären versucht, warum sie zwei Menschen umgebracht hat.
Ein Teenie-Roman, denkt die Leserin über weite Strecken, allerdings ein flott und süffig geschriebener, mit einer gut verdaubaren Portion jugendlicher Negativeinstellung zum Leben. Doch: Die Geschichte erfährt eine unerwartete Wende, ebenso der Schreibstil der jungen Autorin. Und man wird den Verdacht nicht los, dass da eine ganze Mannschaft von gut meinenden Beratern ein paar Wörtchen mitzuschreiben hatte, um die Geschichte zu Ende zu bringen. Das irritiert nachhaltig.
Bücher
Solomonica de Winter
«Die Geschichte von Blue»
277 Seiten
(Diogenes 2014).
Anna Stern
«Schneestill»
244 Seiten
(Salis 2014).