Julian Sartorius - Wenn der Beat zur Gewohnheit wird
Der Berner Schlagzeuger Julian Sartorius hat 2011 täglich eine kurze Rhythmussequenz entwickelt. Mit diesem «Beat Diary» geht er nun auf Tournee. Erklärungen zu einem aussergewöhnlichen Projekt.
Inhalt
Kulturtipp 26/2012
Frank von Niederhäusern
kulturtipp: Welches ist Ihr Beat zum heutigen Tag?
Julian Sartorius: Oh, Moment … Da kommen mir drei mögliche in den Sinn.
Heisst das etwa, Sie haben alle 365 Beats Ihres «Diary» im Kopf?
Ja, beinahe. Wenn ich einen höre, steigen mir sofort Erinnerungen und Bilder auf.
Ist das normal für einen Musiker?
Für einen Improvisator schon. Viele meiner Beats waren Improvisa...
kulturtipp: Welches ist Ihr Beat zum heutigen Tag?
Julian Sartorius: Oh, Moment … Da kommen mir drei mögliche in den Sinn.
Heisst das etwa, Sie haben alle 365 Beats Ihres «Diary» im Kopf?
Ja, beinahe. Wenn ich einen höre, steigen mir sofort Erinnerungen und Bilder auf.
Ist das normal für einen Musiker?
Für einen Improvisator schon. Viele meiner Beats waren Improvisationen. Ich hatte keine fixen Vorstellungen, sondern liess mich inspirieren von dem, was mich umgab. Das bedeutete geschärfte Aufmerksamkeit und grosses Wachsein.
Wie kommt man auf die Idee, sich dieses Wachsein ein ganzes Jahr lang aufzuzwingen?
Auslöser war ein Kalender der Luzerner Illustratorin Paula Troxler mit einer Zeichnung pro Tag. Diese Idee gefiel mir: Ich wollte die Herausforderung des Ungeplanten erfahren, die Beats sollten ein Abbild meines Lebens sein. Am 1. Januar 2011 habe ich spontan losgelegt. Ob und wie ich das durchziehen würde, war mir damals noch nicht klar.
Ganz ehrlich: Wie viele Male haben Sie diesen «Daily Job» vergessen?
Zu Beginn musste ich mich schon konzentrieren. Doch bald wurde mir der tägliche Beat zur Gewohnheit wie das Zähneputzen. Im Januar 2012 hatte ich fast Entzugserscheinungen.
Eine Sucht also: Was waren die Nebenwirkungen?
Zuweilen habe ich die Beats auch verflucht. Das Projekt nahm sehr viel Platz und Zeit in Anspruch.
Hat Ihre sonstige Arbeit als Schlagzeuger darunter gelitten?
Im Gegenteil! Ich bekam eine intensivere Beziehung zu meinem Schlagzeug. Ich arbeitete ja mit allen möglichen Materialien und «Instrumenten», was sich auf mein Spiel ausgewirkt hat.
Zum Beispiel?
Ich spielte mit Kaffeetassen oder mit zwei Handys …
… mit denen Sie Ihre Trommeln traktierten?
Nein. Ich legte sie auf eine Tischplatte. Dann haben Bassist Christian Weber und ich die beiden Handys zeitgleich angerufen, worauf sie in unterschiedlichen Tempi zu vibrieren begannen. In Zügen habe ich mit Blechen und Abdeckmaterialien gespielt, in Hotelzimmern mit Lampenschirmen. Auch Kinderspielsachen habe ich integriert. Eine Quietschsau etwa …
Da höre ich das Kind im Manne.
Ja, klar! Meinem Spiel wohnt der kindliche Aspekt des lustvollen Ausprobierens bei. Ich war schon als Zweijähriger ein «Fegnest» und hab auf allem rumgetrommelt. In der Schule habe ich die Nerven der Lehrkräfte strapaziert.
Wann wurde aus dem «Fegnest» ein seriöser Drummer?
Den Berufswunsch Schlagzeuger formulierte ich erstmals mit sieben. Klar gab es danach Zweifel, und zwischendurch wollte ich Astronaut werden oder Millionär … Aber mit 16 machte ich ernst.
Sie haben die Jazzabteilung der Hochschule Luzern absolviert. Sehen Sie sich als Jazzer?
Die Jazzschule Luzern und meine Lehrer wie Fabian Kuratli oder Norbert Pfammatter hatten ein sehr breites Spektrum. Diese Offenheit hat mich fasziniert. Ich sehe mich nicht als Jazzer im engen Sinne. Ich bin Improvisator.
Warum spielten Sie denn bei Sophie Hunger?
Warum nicht?
Ist das nicht eine ganz andere Klangwelt?
Das ist ja gerade das Interessante: Meine Haltung als Freier Improvisator in die Welt der Popmusik zu integrieren.
Und Sophie Hunger hat das zugelassen?
Sophie Hunger hat es offensichtlich genossen, dass ich die Routine aufbrach. Sie selbst ist ja eine grossartige Improvisatorin, die ihre Songs nie zweimal gleich singt.
Aber es sind Popsongs mit einem klaren Muster.
Ja, aber ich konnte an den kleinsten Finessen tüfteln. Das hat mich sehr inspiriert.
Weshalb sind Sie ausgestiegen bei Sophie Hunger?
Weil ich Platz brauchte für andere Projekte. Mit Sophie spielten wir rund 100 Konzerte pro Jahr.
Ihr «Beat Diary» hat Sie also davon abgehalten, viel Geld zu verdienen?
Nein nein, ich mach ja auch noch anderes. Ich habe einfach zu viele Ideen, die ich umsetzen will.
Wie weit spannt sich Ihr musikalischer Kosmos?
Ich höre sehr unterschiedliche Musik: Von der englischen Rockband Radiohead bis zum Freesaxer Peter Brötzmann. Auch Neue Musik von John Cage.
Nun gehen Sie mit «Beat Diary» auf Solo-Tournee. Spielen Sie da alle 365 Beats hintereinander?
Nein, das würde keinen Sinn machen. Ich werde improvisieren, und als Ergänzung treten DJs auf.
Passt das zusammen?
Ja, denn die DJs verwenden für ihre Sessions die 12 Vinylplatten meines «Beat Diary».
Haben Sie deshalb Ihr «Diary» auf Vinyl herausgebracht?
Ich glaube, die Tage der CD sind gezählt. Zudem: 90 Beats auf einer CD – das ist gar nicht hörbar am Stück. Die Länge einer Vinyl-Seite aber ist eine gute Hörportion. Einige Leute haben mir erzählt, die Beats und die mitaufgenommenen Umgebungsgeräusche hätten die Wirkung, dass es ihre Aufmerksamkeit für die Alltagsgeräusche erhöht.
Julian Sartorius
Der aus Thun stammende Schlagzeuger Julian Sartorius (31) hat an der Musikhochschule Luzern studiert. Seit 2006 ist er als freischaffender Musiker in Europa und Amerika unterwegs. Er spielte mit so unterschiedlichen Leuten wie der Singer-Songwriterin Sophie Hunger, der Lausanner Jazzpianistin Sylvie Courvoisier oder dem Berner Rap-Poeten Kutti MC.
Aktuell ist er unter anderem im Trio des Jazzpianisten Colin Vallon zu hören, mit dem englischen Sänger Merz, dem Berner Elektro-Produzenten Dimlite oder der Luzerner Experimentalband Lila. Zudem spielt er Solokonzerte.
www.juliansartorius.ch
[CD]
Julian Sartorius:
Beat Diary.
12-LP-Box samt
Fotobuch
(Everestrecords 2012).
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