Julian Barnes Unvergessenes verdrängt
Die persönliche Vergangenheit ist anders, als man denkt – nämlich viel schlimmer. Das ist das Fazit einer fiktiven Erinnerungsreise in Julian Barnes’ «Vom Ende einer Geschichte».
Inhalt
Kulturtipp 25/2011
Rolf Hürzeler
Tony Webster ist mit sich im Reinen. Er lebt allein, «rezykliert, putzt und streicht seine Wohnung frisch». Tony hatte ein ruhiges Dasein in einer Kulturverwaltung, heiratete eine nette Frau, und die gemeinsame Tochter ist gut herausgekommen. Nach der Scheidung in gegenseitigem Einvernehmen hatte Tony ein paar kurze Affären. Jetzt ist er ein selbstzufriedener Pensionär, der im englischen Wohlfahrtsstaat seine späteren Tage geniesst.
Tony Webster ist der Ich-Erz...
Tony Webster ist mit sich im Reinen. Er lebt allein, «rezykliert, putzt und streicht seine Wohnung frisch». Tony hatte ein ruhiges Dasein in einer Kulturverwaltung, heiratete eine nette Frau, und die gemeinsame Tochter ist gut herausgekommen. Nach der Scheidung in gegenseitigem Einvernehmen hatte Tony ein paar kurze Affären. Jetzt ist er ein selbstzufriedener Pensionär, der im englischen Wohlfahrtsstaat seine späteren Tage geniesst.
Tony Webster ist der Ich-Erzähler in Julian Barnes neustem Roman «Vom Ende einer Geschichte», der diesen Herbst mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde. Eine typische Figur des englischen Schriftstellers, wie sie in seinen früheren Büchern immer wieder anzutreffen ist. Schnell merkt der Leser, dass er diesem Erzähler nicht vertrauen darf, so liebenswürdig er sich auch gibt. Immer wieder finden sich Hinweise auf mögliche Lebenslügen: «Meine jetzige Erinnerung an mein damaliges Verständnis des Geschehens.» Das damalige «Geschehen» bezieht sich auf Veronica, Tonys erste grosse Liebe, mit der er eine fatale Liaison hatte.
Das Verdrängen hat ein Ende, als der Brief eines Anwalts bei Tony eintrifft. Er erfährt, dass ihm die verstorbene Mutter von Veronica 500 Pfund und das Tagebuch seines Freundes Adrian hinterlassen hat. Adrian sass mit Tony in der Maturklasse, er war der Vorzeige-Intellektuelle, «der Camus las» und später in Cambridge studierte. Adrian war auch Veronicas Freund, nachdem sie Tony verlassen hatte. Und Adrian nahm sich in jungen Jahren das Leben.
In der Folge bemüht sich Tony, in den Besitz dieses Tagebuchs zu kommen. Doch Veronica weigert sich, dem letzten Willen ihrer Mutter nachzukommen. Sie führt ihn vielmehr auf eine Spur des Schreckens, der die bunten Sechziger plötzlich in einem trüben Licht erscheinen lässt.
Barnes hat eine «Art psychologischen Krimi» geschrieben, urteilt der «Guardian». Tatsächlich spürt der Leser bei der Lektüre dieses kurzen Romans stets ein ungutes Gefühl, dass hier etwas nicht stimmen kann. Und am Schluss ist alles viel schlimmer, als man zu Beginn befürchten musste.
Buch]
Julian Barnes
Vom Ende einer Geschichte
Aus dem Englischen
von Gertraude Krueger
192 Seiten
(Kiepenheuer & Witsch 2011).
[/Buch]