Die Kunst ist nicht im Besitz des Volkes oder der Partei, genauso wenig wie einst der Aristokratie oder eines Mäzens. Diese Haltung schreibt der englische Autor Julian Barnes dem Komponisten Dmitri Schostakowitsch (1906–1975) in seinem neuen Roman zu. Denn Schostakowitsch blieb sich zwar politisch nicht treu, aber künstlerisch. Er biederte sich mit seinen eigenständigen, zum Teil gar sperrigen Kompositionen keinem trivialen Musikverständnis an. Dafür musste er sich mit der Macht arrangieren – das war der Kompromiss.
In «Der Lärm der Zeit» hat Barnes vordergründig in einer Art biografischer Übersicht das Leben des avantgardistischen Komponisten zusammengefasst. Tatsächlich jedoch hat er das Verhältnis zwischen Macht und Kunst analysiert, das er auf die Frage reduziert: Wieweit darf sich ein Künstler mit der Macht arrangieren, damit er seiner Berufung nachgehen kann? Barnes überlässt das Urteil dem Leser, und dieser sollte sich vor voreiligen Schlussfolgerungen hüten. Heute kann sich in Mitteleuropa kaum jemand vorstellen, wie gefährlich die stalinistische Bedrohung sein konnte, wenn sich diese Staatsmacht herausgefordert fühlte.
Konventionen mit Avantgarde verbinden
Barnes widmet sich damit wieder seinem liebsten Genre, dem fiktionalen Sachbuch, nachdem er sich in den letzten Werken vor allem mit persönlichen Befindlichkeiten auseinandergesetzt hat.
Der Komponist Schostakowitsch galt schon zu Lebzeiten als ein musikalisches Genie. Er verstand es wie kein Zweiter, in seinen Kompositionen Konventionen mit avantgardistischen Ansätzen zu verbinden, und spielte immer wieder mit der Atonalität. Der Musiker genügte dem gängigen doktrinären Kunstverständnis nicht, aber stand er deswegen in unterschwelliger Opposition zum Regime? Zu einer staatlichen Macht, die er mit devoten Gesten unterstützte, etwa mit einer öffentlichen Kritik in der «Prawda» am dissidenten Physiker Andrej Sacharow 1973?
Schostakowitsch polarisiert bis heute. Die einen halten ihn für einen Helden, die andern für einen Feigling; laut Barnes hätte er sich als «nicht mutig» eingestuft. Aber ein ideologischer Überzeugungstäter war der Musiker in der Sichtweise des Schriftstellers bestimmt nicht.
«Die schlimmste Zeit seines Lebens»
Julian Barnes führt den Leser in das Leben des modernen Komponisten und Musikers ein, als sich dieser in Todesgefahr wähnte. «Das war die schlimmste Zeit seines Lebens, die er sich vorstellen konnte», lautet der erste Satz des Romans. Schostakowitsch steht mit seinem Reisekoffer Nacht für Nacht auf dem Flur seines Moskauer Appartements vor dem Lift und wartet darauf, abgeholt zu werden. Er hat das eheliche Bett verlassen, damit Frau und Tochter die erwartete Verhaftung nicht miterleben müssen.
Der damals schon weltberühmte Schostakowitsch war in Ungnade gefallen, nachdem Josef Stalin am 16. Januar 1936 der ersten Moskauer Aufführung der modernen Oper «Lady Macbeth von Mzensk» beiwohnte. Die avantgardistische Komposition missfiel dem Diktator, der von seiner eigenen Musikalität überzeugt war. Das Parteiorgan «Prawda» brachte einige Tage später einen Verriss des Abends, in dem Schostakowitsch «linksradikale Zügellosigkeit» und «Formalismus» vorgeworfen wurden. Das galt in der Zeit der stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion als Todesurteil. Tatsächlich wurde Schostakowitsch in der Folge zu einem Verhör vorgeladen, in dem ihm sein Inquisitor Zakrevsky vorwarf, an einem Komplott gegen Stalin beteiligt zu sein. Da der Musiker keine Komplizen nennen konnte, wurde er nach Hause geschickt, «um seine Erinnerung aufzufrischen». Als er später erneut in die KGB-Zentrale vorgeladen war, blieb sein Peiniger verschwunden. «Zwischen Samstag und Montag war Zakrevsky selbst unter Verdacht geraten. Der Verfolger wurde verfolgt.» Das war damals der alltägliche Wahnsinn der Säuberungen.
Erst später erkannte das Regime, wie sehr ihm dieser Musiker nützlich sein konnte.
Julian Barnes
«Der Lärm der Zeit»
Aus dem Engl. von Gertraude Krueger
256 Seiten (Kiepenheuer & Wi