So lustig können Schreibkurse sein: «Kate war seine intelligenteste Studentin, auch wenn sie in ihren Geschichten zu viele Hunde unterbrachte. Einmal hatte er mit Rotstift an den Rand geschrieben ‹Hunde killen›. Kate schrieb daraufhin eine Shortstory mit dem Titel «Der unsterbliche Dackel».
Das ist eine Episode aus der Kurzgeschichte in der soeben erschienenen Textsammlung «Am Fenster» des englischen Schriftstellers Julian Barnes. Er erzählt in der «Hommage an Hemingway» vordergründig von seinen Erfahrungen als Lehrer mit Kreativschreib-Kursen und wähnt sich mitunter in einer Sexakademie wegen der attraktiven Teilnehmerinnen. Tatsächlich will Barnes zeigen, wie wahrhaftig Literatur sein kann, gerade weil sie sich nicht an die Fakten halten muss. Eine erfundene Geschichte ist aus dieser Sicht oft wahrer als die Erkenntnis einer Wirklichkeit. Der brillante Erzähler Barnes verpackt diese Einsicht in vergnügliche Episoden von Kreativschreibkursen.
Der 70-jährige Julian Barnes gehört zu den sicheren Werten der zeitgenössischen englischen Literatur. Er wuchs in einer Familie auf, in der das Wort stets wichtig war. Seine Eltern unterrichteten Französisch. In dem neuen Band beschreibt Barnes selbstironisch, wie er zum Buch fand. So schildert er, mit welcher Lust er sich als Halbwüchsiger auf «Satyricon» des Römers Titus Petronius stürzte und die schlüpfrigen Szenen genoss. Dummerweise glaubt der Teenager, sämtliche antiken Klassiker hätten über Orgien mit erotischen Frauen geschrieben – verlor jedoch nach ein paar Enttäuschungen das Interesse an der Antike schnell.
Bücher und Tod
Später entwickelte sich Barnes zu einem Büchernarr, der quer durch das Land reiste, um nach antiquarischen Ausgaben zu suchen, am liebsten seiner Lieblingsautoren, wie Evelyn Waugh oder Graham Greene, wie er im Aufsatz «Ein Leben mit Büchern» schreibt. Für Barnes ist es selbstverständlich, mehr Bücher zu kaufen, als er selbst bei einer grosszügig bemessenen Lebenserwartung je lesen könnte. Seit dem Tod seiner Frau Pat Kavanagh ist das Sterben bei Julian Barnes ein wiederkehrendes Motiv, in einzelnen dieser Essays, vor allem aber in seinem letzten Erzählband «Lebensstufen», in dem er von seiner Frau Abschied nimmt.
Seinen Durchbruch schaffte er indes mit Romanen wie «Darüber reden» (1991), eine wunderbare Beziehungskiste, die im englischen Mittelstand spielt. Alle Protagonisten erklären die Entwicklung der Dinge aus ihrer Sicht. Damit hat Barnes bereits vor einem Vierteljahrhundert sein Lieblingsthema aufgegriffen, nämlich die Facetten unterschiedlicher Wahrheiten.
Aber vornehmlich beschäftigen sich diese 17 literarischen Essays mit der menschlichen Erkenntnis. Barnes vermittelt dazu viele Einsichten in die englische Literatur und vor allem in das französische Leben. Denn der Mann fühlt sich jenseits des Ärmelkanals mehr zu Hause als in seiner Heimat. So berichtet er mit Witz und Ironie, wie der Kolonialist und Hurrapatriot Rudyard Kipling Frankreich in seinem Rolls-Royce erkundete. Wunderbar, wie Kipling mit insularer Kleinlichkeit den französischen Lebensstil kritisiert, und doch von den Attraktionen des Nachbarlandes beeindruckt ist. So ist er wie alle Reisenden begeistert von der Kathedrale in Chartres, notiert aber über die Unterkunft: «Heisswasserhahn im Bad kalt wie üblich.» Der Millionär im Rolls beklagt sich auch allen Ernstes, dass ihm im Grand Hotel von Grenoble 5 Francs für das Autowaschen verrechnet werden.
Kritischer Geist
Barnes ist in seinen Urteilen über seine Berufskollegen unerbittlich ungerecht. So lässt er zwar Rudyard Kipling alle Unzulänglichkeiten und Fehler durchgehen. George Orwell wird dafür in Barnes’ Augen masslos überschätzt. Er schreibt ihm den Zustand «Liebling der Nation» (LdN) zu, was aus Barnes’ Sicht eine Art intellektuelles Todesurteil ist. Der gesellschaftskritische Orwell ist für ihn ein Scheinheiliger, ein verlogener Möchtegernsozialist.
Nicht alle Essays in «Am Fenster» sind für die deutschsprachigen Leser gleichermassen zwingend. So ist beispielsweise nicht ganz ersichtlich, weshalb der Text «Der trügerische Schein der Penelope Fitzgerald» über eine im deutschsprachigen Raum wenig bekannte Schriftstellerin enthalten ist.
Buch
Julian Barnes
«Am Fenster»
350 Seiten
(Kiepenheuer & Witsch 2016).