Der 68-jährige Pensionär Walter Nowak befindet sich in einer wahrhaft misslichen Lage: Nackt und blutend liegt er nach einer beim Schwimmen zugezogenen Kopfverletzung auf dem kalten Badezimmer-Boden. Seine Frau ist für ein mehrtägiges Seminar ausser Haus, und er dämmert im halbbewussten Zustand vor sich hin, lässt sein Leben an sich vorbeiziehen. Diesen assoziativen Bewusstseinsstrom fängt Julia Wolf in ihrem neuen Buch «Walter Nowak bleibt liegen» ein.
Gegensätzliche Wahrnehmungen
Der Roman ist ein einziger innerer Monolog, in dem die Sätze oft halbfertig im leeren Raum hängen bleiben, von einem Thema zum nächsten springen: Walter Nowaks Erinnerungen, erlebte Kränkungen, Wünsche und Sehnsüchte ziehen vorbei und setzen sich zusammen zum Bild eines alternden Mannes, der sich mit seiner Geschichte und der eigenen Sterblichkeit noch nicht auseinandergesetzt hat. Die Eigenwahrnehmung steht im krassen Gegensatz zur Aussenwahrnehmung. Während er sich immer noch als mitten im Leben stehenden, virilen Frauenverführer und Geschäftsmann sieht, wohnen die Leser seinem Untergang bei.
Stellvertretend für die Nachkriegsgeneration
Aus Bruchstücken, Gedankenfetzen lässt sich Walter Nowaks ganzes Leben zusammensetzen: die Kindheit in der hessischen Provinz der 50er-Jahre mit einer alleinerziehenden, alkoholkranken Mutter und einem prügelnden Grossvater. Sein bis ins Erwachsenenalter gehegter Traum, ein Star wie Elvis Presley sei sein Vater – die Realität als unehelicher Sohn eines US-amerikanischen Soldaten verdrängt er. Seine erfolgreichen Jahre als Geschäftsführer. Seine bröckelnde Ehe mit Gisela und seine Affären. Seine Heirat mit der viel jüngeren Yvonne. Die Entfremdung zu seinem einzigen Sohn Felix, der nicht in seine Fussstapfen treten will. Der Verkauf seiner Firma an den Meistbietenden. Und schliesslich die vernichtende Diagnose seiner Ärztin.
Ein Leben wie viele, stellvertretend für eine Nachkriegsgeneration in Deutschland, in der manche Männer Karriere und Statussymbole über alles stellten, dafür in der Familie fast nicht präsent waren und emotional verkümmerten. Durch Walter Nowaks Wortwahl wird seine Weltsicht, sein antiquiertes Frauenbild spürbar. Es sind die Worte eines Mannes, der sich gewohnt ist, den Ton anzugeben, als starker Mann aufzutreten, den nichts umhauen kann. Nun liegt er hilflos am Boden und versucht immer noch, sich seine Lage schönzureden.
Der 37-jährigen Prosa- und Theaterautorin Julia Wolf gelingt mit ihrem Roman ein eigenwilliges Stück Literatur, für das sie etwa mit dem 3sat-Preis in Klagenfurt ausgezeichnet und für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. Indem sie als jüngere Autorin aus der Sicht eines alternden Mannes erzählt, nimmt sie eine ungewohnte Perspektive ein. Sie habe sich die Figur mit dieser nahen Perspektive erschreiben wollen, um sie besser verstehen zu können, sagte Wolf in einem Interview mit SWR 2. Vorausgegangen sind nebst Recherchen Gespräche mit ihrem Vater und Stiefvater.
Die Realität hat die Autorin eingeholt
Ihr Protagonist sei «ein kleiner Chauvi», sagte sie, ergänzte aber: «Ich hoffe, er ist keine Karikatur, ich will ihn nicht blossstellen, sondern ihm eine emotionale Tiefe geben.» Das gelingt ihr: In all seiner Selbstgerechtigkeit wird Walter Nowak auch als verletzlicher Mensch sichtbar, der durch seine Erfahrungen zu dem geworden ist, der er ist.
Wolf, die bereits in ihrem ersten Roman «Alles ist jetzt» von einer ähnlichen Vaterfigur erzählt, hat an diesem Buch geschrieben, lange bevor Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde. «Ich dachte eigentlich, dass dieser Männertypus liegenbleibt, sich selbst abschafft.» Nun hat sie die Realität eingeholt – im Vergleich dazu sei ihr Protagonist ein netter Kerl.
Buch
Julia Wolf
«Walter Nowak bleibt liegen»
158 Seiten
(Frankfurter Verlagsanstalt 2017).