Frau K. erwacht morgens meistens. Manchmal erwacht sie nicht. Wenn sie nicht erwacht, dann schläft sie einen Tag lang, manchmal zwei, vielleicht sogar drei, manchmal erwacht sie dann am dritten Tag und denkt, was ist passiert? Dann schliesst sie die Augen wieder. Es geht ihr gut dabei, Frau K. mag den Schlaf, weil sie in ihm nicht viel falsch machen kann. Sie muss dann keine Worte suchen, muss nicht grüssen, nicht gehen, noch stehen, noch bleiben, sie muss nicht entscheiden, Frau K. entscheidet sich manchmal für eine Gemüsesuppe, und manchmal entscheidet sie sich, die Nachrichten zu schauen. Frau K. liebt den Schlaf, weil sie die Welt schlafend nichts angeht.
Frau K. erhebt sich langsam, wenn sie erwacht, und später geht sie in ihrer Küche auf und ab. Das Fenster ist gross, und ein Teil der Welt ist für Frau K. in diesem Fenster sichtbar.
Zum Beispiel eine Schaukel, auf der sie manchmal ein Kind schaukeln sieht, dessen Haare im Sonnenlicht leuchten. Bananenfarbenes Haar.
Wenn es regnet, sitzt das Kind selten auf der Schaukel. Wenn es dennoch da sitzt, dann wird es nass. Dann sieht Frau K., wie das Wasser vom Kind tropft.
Das Haar des Kindes ist dann dunkler.
Frau K. versucht manchmal so am Fenster zu stehen, die Teetasse so zu halten, dass sie sich fühlt wie die Frauen in den Werbefilmen, die ihre Teetassen halten, wenn es regnet. Und die sehnsüchtig aus den grossen Fenstern ihrer grossen Wohnungen blicken.
Mit diesem Blick, der sagt, ich habe das Beste gemacht aus meinem Leben.
Meistens funktioniert es nicht.
Sobald Frau K. erwacht, wird sie an ihren Körper erinnert. Sie ist schliesslich in ihm drin, darum wird sie sofort an ihn erinnert. Sie weiss dann, das sind meine Beine und das sind meine Arme und dort ist meine Haut, überall dort.
Mein Körper, denkt Frau K.
Und sofort überlegt Frau K., wie es denn ist in ihrem Körper, jetzt gerade, nach dem Erwachen. Sie denkt darüber nach, ob es auch der Körper ist, den sie will, so wie er ist, der wirklich ihrer ist.
Sie können Ihren Körper auch ändern, Sie können ihn nicht eintauschen, sagt die Dame im Heft, das Heft, das bei Frau K. im Bad liegt, das Heft, das sie manchmal nach dem Erwachen und auf dem Klo sitzend zur Hand nimmt.
Und im Heft lachen die Damen ein knisterndes Lachen, ein metallisches Lachen, ein «Zigarettenasche fällt in Bier»-zischen – des Lachen. Ein «Himbeereis schmilzt im Prosecco»-Lachen.
Frau K.?
Sie können Ihren Körper nicht eintauschen, das geht nicht, sagt die Dame und schaut dabei so sehr geradeaus, dass der Blick Frau K. an eine Autobahn erinnert. Das geht leider nicht, sagt die Dame in ihrem Körper, der Frau K. ebenfalls an eine Autobahn erinnert. Gerade, klar, leicht kurvig und ein bisschen grau.
Ich bin mandelbraun, denkt Frau K. Und fühlt sich der Dame überlegen, die, wie sie findet, mit ihrem Kommentar ihren, also Frau K.s Körper beleidigt hat.
Ich bin gerne in mir drin, sagt Frau K. zu der Dame im Heft, aber es kostet sie Kraft, und schon jetzt denkt sie zum ersten Mal wieder daran, dass der Schlaf sie liebt und sie den Schlaf.
In der Küche macht sich Frau K. einen Tee. Und auf der Packung findet sie den Hinweis, dass der Tee ihr guttun wird. Sehr gut. Er wird ihr dank den Blüten der Hochlandnarzissen zu mehr Gleichgewicht verhelfen.
Brauche ich wohl Gleichgewicht?, fragt sich Frau K.
Ja, vielleicht. Ja, wenn ich es mir recht überlege, sagt sie zu sich, dann schwanke ich.
Frau K. verlässt in Gedanken an ihr eigenes Schwanken die Wohnung.
Die Welt schwankt nicht vor der Tür. In langen Mänteln gehen Menschen an ihr vorüber. Frau K. kann nicht anders, sie muss sich alle ansehen, und sie schaut den Menschen in die Taschen. Lassen Sie mich doch einfach in Ruhe mit Ihrem Hühnchen in der Tasche, sagt Frau K. innerlich zu der Dame, die neben ihr geht. Die ihre Haare sehr aufwendig trägt, die nicht summt, aber deren Körper ein Ton entkommt, wie eine Hochspannungsleitung einen Ton machen kann. Was ist denn mit Ihnen, denkt Frau K., und die Dame summt davon.
Frau K. fragt einen an der Strassenecke sitzenden jüngeren Menschen, warum er seine Fingernägel schwarz angemalt trägt.
Weil ich es schön finde, sagt der Mensch.
Weil Sie es schön finden also, sagt Frau K.
Ja, sagt der junge Mensch. Und aus seinem Gesicht springt eine Zuversicht. Sie springt Frau K. ins Gesicht. Frau K. duckt sich.
Und wenn ich es nicht schön finde?
Dann ist mir das egal, sagt der Mensch und macht sein Gesicht schmal, den Mund und die Augen.
Aber wie kommt es denn, fragt Frau K., dass Sie es schön finden und ich nicht.
Weil ich ich bin, und Sie sind Sie.
Aber woher kommt das Schön? Mein Schön? Ihr Schön?
Mein Schön kommt von mir, sagt der Mensch, es kommt auch von meiner Mutter und der Freundin meiner Mutter und einem Menschen, der zu mir gehört, und von meinem Vater. Meine Mutter ist Anwältin, und mein Vater ist Tänzer.
Frau K. versteht die Welt nicht mehr, die wankt, und auch der Tee wirkt nicht in ihr.
Was kann ich denn, wenn die Welt wankt, dann nützt mir doch die Hochlandnarzisse nichts, sagt sie zu dem jungen Menschen, der nun angefangen hat, ein trauriges, saftiges Lied zu singen.
Und er sagt, er wolle jetzt Musik hören. Dann steckt er sich Stöpsel in die Ohren und hört Musik und schaut zu Boden.
Vielleicht, denkt Frau K., findet dieser Mensch nun etwas schön, und das hat dann mit mir zu tun. Vielleicht habe ich etwas zu seinem Schön beigetragen.
Frau K. versucht, die Welt zu berühren.
Habe ich etwas zu Ihrem Schön beigetragen?
Der junge Mensch reagiert nicht.
Sie fasst den Bodenbelag an. Sie fasst dem jungen Menschen ans Ohr. Dieser reisst die Augen auf und scheucht Frau K. davon, als wäre sie keine Dame, sondern eine umhersurrende Fliege.
In der Strassenbahn fasst sie einer Frau heimlich hinten an den Kragen. Die Dame bemerkt überhaupt nichts. Frau K. klopft ihr an den Hals, aber die Dame bewegt sich nicht.
Sie sitzt hinter ihr und steckt der Frau ihre Finger in die toupierten Haare, aber nichts passiert.
Und plötzlich ist sich Frau K. nicht mehr ganz sicher.
Sie steigt aus und fasst in die Büsche am Wegrand, berührt den Bordstein, sie klopft auf die Autodächer und dem Herrn auf den Hut, der schaut sie an und flucht.
Frau K. fasst in die Rosen und in den Teich. Sie fasst die Katzen an, die in den Vorgärten sitzen. Sie fasst auch Hunde an, die Vögel fliegen davon. Sie berührt das Haar eines Kindes. Es ist fein. Und dann ist sie bei sich in der Wohnung angekommen.
Sie geht durch ihre Wohnung und berührt alles, was ihr gehört. Sie berührt auch sich selbst, jede Stelle der Oberfläche ihrer Haut.
Später legt sie sich ins Bett und schläft ein.
Zur Person
Julia Weber (* 1983) studierte nach einer Berufslehre und der Matura am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Im Jahr 2012 hat sie den Literaturdienst gegründet (www.literaturdienst.ch). Sie ist Teil der Kunstaktionsgruppe «Literatur für das, was passiert» und des feministischen Kollektivs «RAUF». Ihr zweiter Roman «Die Vermengung» (2022) wurde mit dem ZKB Schillerpreis ausgezeichnet.