Herr Fell lebt in einem Haus, ausserhalb. Ausserhalb von was, wird er manchmal gefragt, wenn er sagt, er wohne Ausserhalb. Dann lacht Herr Fell ein poröses, aber dennoch weiches Lachen und sagt, na ausserhalb der Stadt. Aber, sagen dann die Menschen, es gibt kein Ausserhalb, es gibt doch nur die Stadt, und ausserhalb der Stadt ist die andere Stadt, und dann ist sofort wieder eine Stadt, und dann ist das Ausland, sagen sie. Herr Fell aber sagt, ich wohne in diesem einen Haus, dieses Haus mit der senfgelben Fassade und den undichten Fenstern, das nicht zur Stadt gehört und auch nicht zum Ausland. Undichte Fenster! Rufen die Menschen dann, dass es das noch gibt? Die Menschen erinnern sich, ja, das eine Haus ausserhalb, das gibt es noch, das hätten sie einmal im Internet gesehen. Und damals, oh wir erinnern uns, als es auch in der Stadt noch einzelne Häuser gab, solche mit schrägem Dach. Ach ja, sagen sie dann, mit Ziegeln. Die waren aus Stein, die Häuser, und es gab Eidechsen in den Gemäuern, und es gab Efeu, ja, richtiger, wachsender Efeu an den Mauern der Häuser. Ziegelsteine, riefen die Menschen. Messingtürklinken, riefen sie.
Wie alt sind Sie, Herr Fell, wird er manchmal von den jüngeren Menschen gefragt, die ihn anschauen und sehen, dass er faltig ist. Ein bisschen faltig, denn so richtig faltig wird jetzt niemand mehr, aber ab einem gewissen Alter kann man das Alter dann nicht mehr feststellen. Ich bin sehr alt, sagt Herr Fell dann. Als ich jung war, verdienten die Frauen in manchen Bereichen noch weniger, weil sie Frauen waren. Warum, riefen dann die jungen Menschen. Das wusste niemand so genau. Er denke, sagt Herr Fell dann, es hatte damit zu tun, dass sie Kinder bekommen konnten. Aber das sei doch vielmehr ein Grund, ihnen mehr zu zahlen, sagten die jungen Menschen. Komische Zeit war das, sagen sie und dehnen sich, weil dehnen ist gesund. Als Herr Fell ein Junge war, gab es noch Umarmungen, und es gab die Agglomeration. Als Herr Fell jung war, gab es seine Mütter, die ihn stundenlang umarmten, und es gab Flugzeuge. Flugzeuge gibt es immer noch, sagen die jungen Menschen. Ja, aber man konnte für 25 Franken nach Barcelona fliegen. Wie? Für 25 Franken nach Barcelona, das ist ja weniger, als für ins Tessin. Ja, sagte Herr Fell. Herr Fell ist jetzt alt, und er wohnt mit seiner Tochter in diesem Haus, und seine Tochter wiederum hat ein Kind, das Marta heisst, und Herr Fell passt den ganzen Tag auf Marta auf, während die Mutter in der Stadt arbeitet. Er geht mit Marta in den Garten und sucht alles, was gefunden und gesucht werden kann. Sie suchen das Springseil vom letzten Sommer, als Marta noch Springseil sprang, und sie suchen Raupen, die sich durch die Blätter fressen. Sie suchen auch Läuse, die sie dem Marienkäfer füttern wollen, der Ludwig heisst und bei ihnen wohnt. Und sie suchen einen Diamanten, sie suchen auch Gold, aber weniger, dann suchen sie noch etwas für die Zukunft, finden aber meist etwas aus der Vergangenheit.
In der Wiese vor ihrem Haus wachsen 11 345 verschiedene Blumen. Und Herr Fell sagt, damals, als ich klein war, wuchs hier nur Mais. Ein Mais. Mais, sagt Marta. Marta kann nicht in Sätzen sprechen, sie spricht in Worten. Sie sagt, Fell, Liebe, Wiese, dich. Ich dich auch Wiese, sagt Herr Fell, obschon er manchmal nicht so genau weiss, was sie meint. Er versteht Marta am besten, wenn sie gemeinsam in der Erde graben. Dann finden sie einen Stein und Marta sagt, Stein. Ja, sagt Herr Fell und erinnert sich an den Tag, als in der Stadt entschieden wurde, dass man die gesamte Stadt einreisst, den Schutt in die Landschaft bringt, dann eine neue Stadt baut. Das war ein riesiges Projekt, denn erst musste an einem anderen Ort eine Stadt gebaut werden, in der die Menschen dann lebten, bis die andere Stadt gebaut war. Aber als die eine Stadt gebaut war, merkten sie, dass es keine zweite Stadt mehr brauchte, also die, die sie bauen wollten. Dann waren manche Menschen sehr enttäuscht, denn sie hatten sich auf die Stadt gefreut. Und aus dem Schutt der Stadt hatte man dann einen Berg gebaut, und am Fusse dieses Berges wohnt Herr Fell, in diesem Haus mit senfgelber Fassade, das Haus, das vergessen wurde, beim Einreissen, und in diesem Haus wohnen auch Marta und ihre Mutter. Der Stein, den wir ausgegraben haben, war einmal ein Haus, sagt Herr Fell zu Marta, und Marta sagt, Haus.
Marta ist manchmal traurig, weil es wenig Magie gibt in dieser Welt. Und Herr Fell versucht, ihr vieles zu zaubern. Ein Licht am Morgen und 11 345 Blumen auf die Wiese, eine Raupe in die Hand, und am Abend versucht er, die Mutter wach zu zaubern, die meist so müde ist von der Arbeit in der Stadt, dass sie einschläft, sobald sie durch die Tür getreten ist, sie hinter sich geschlossen hat. Meist hebt sie einen Fuss und nimmt sich den Schuh vom Fuss und stellt ihn hin, dann hebt sie den anderen Fuss und nimmt auch von diesem Fuss den Schuh und stellt ihn neben den anderen Schuh. Marta sagt dann, Schuh. Und die Mutter hebt den Kopf, legt ihn dann in die Mäntel an der Garderobe und schläft ein, mit dem Gesicht in den Mänteln. Herr Fell trägt seine Tochter ins Wohnzimmer, legt sie auf das grüne Sofa, deckt sie zu. Müde, sagt er zu Marta. Müde, sagt Marta.
Menschen wie Marta gibt es nicht mehr. Es gibt nur sie. Früher gab es noch allerlei Menschen, sagt Herr Fell zu den jungen Menschen. Wie allerlei? Fragen diese. Menschen mit grossen Köpfen und kurzen Beinen. Menschen mit anderem Zeitgefühl. Menschen mit speziellen Abläufen im Kopf. Eigenartige Verkabelungen.
Behinderte, sagen die jungen Menschen.
Das ist besser, wenn die erst gar nicht zur Welt kommen, sagte man uns, habe man dann entschieden, weil sie nicht Freude haben am Leben und weil sie teuer sind.
Wenn ich mir vorstellte, sagt Herr Fell zu den jungen Menschen, wenn ich mir vorstellte, es gäbe Marta nicht, und Marta steht neben ihm.
Marta kichert.
Sie ist der einzige Mensch, den es so noch gibt.
Die jungen Menschen staunen.
Als ich jung war, sagt Herr Fell zu den jungen Menschen, gab es gerade so viel Magie, wie es sie heute gibt. Und es gab Kieselsteine, sagen die jungen Menschen, das hätten ihre Eltern ihnen erzählt. Die hätten eine Unordnung in die Häuser getragen und hätten allgemein ein Durcheinander gemacht, wenn sie sich verteilt hätten, in den Schuhen und in den Strassen.
Schuhe, sagt Marta. Strassen, sagt Marta. Marta sagt, Magie.
Julia Weber
Julia Weber wurde 1983 in Moshi, Tansania, geboren. 1985 kehrte sie mit ihrer Familie nach Zürich zurück. Von 2009 bis 2012 studierte sie literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Ihr erster Roman «Immer ist alles schön» (2017) wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Julia Weber ist Mitbegründerin des feministischen Autorinnen-Kollektivs «Rauf» und der Kunstaktionsgruppe «Literatur für das, was passiert» zur Unterstützung von Menschen auf der Flucht. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Zürich.