Das Kind ist gut angezogen, die Krawatte vor dem Gespräch dank Youtube-Anleitung professionell zugeknöpft, kein Massanzug, aber gebügeltes Hemd und geputzte Schuhe. Es hat einen Aktenordner dabei, der vor ihm auf dem Tisch liegt, mit farbig markierten Abteilungen.
Setzt euch, sagt das Kind und deutet auf die vis-à-vis platzierten Stühle. Die Mutter setzt sich links, der Vater rechts.
Johnny, sagt die Mutter.
Beginnen wir doch direkt mit den Verhandlungen, sagt das Kind. Was will ich, was wollt ihr und wie finden wir eine Lösung.
Johnny, sagt die Mutter wieder, etwas leiser diesmal, wie ein Echo.
Ich habe die Formulare bereits vorbereitet, sagt das Kind, wir müssen sie nur noch gemeinsam durchgehen und am Ende unterschreiben.
Oh Johnny, sagt die Mutter, und dann zum Vater: Sag du doch auch mal was.
Den Scheiss muss ich mir gar nicht erst anhören, sagt der Vater. Was soll das, Johnny, ehrlich.
Das Kind rüttelt ein wenig an seiner Krawatte, bis sie lockerer sitzt. Es lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück und lässt den rechten Zeigefinger über den Ordnerrand gleiten, Farbregisterindex für Farbregisterindex.
Hermann, sagt das Kind, ist es für dich okay, wenn wir uns weiterhin duzen. Lass uns doch die Sache gütlich zu Ende bringen. Wir möchten doch alle kein Familiendrama. Solange wir uns professionell verhalten und ein offenes Ohr haben für unser Gegenüber, sollte doch eine Einigung möglich sein.
Oh Johnny, sagt die Mutter. Und dann noch, nachgezogen: Bitte.
Margarete, sagt das Kind zur Mutter hingewandt, dann fang du doch vielleicht mal an, was sind denn so deine Bedenken.
Heute ist ein Schultag, sagt die Mutter, und du solltest schon seit halb sieben aus dem Haus sein.
Die erste Stunde fällt aus, sagt das Kind, keine Sorge, ich habe mich um alles gekümmert. Der Mathematiklehrer aus der zweiten Stunde ist informiert, dass ich eventuell etwas zu spät komme, falls die Verhandlungen länger dauern.
Jetzt reichts mir aber endgültig, sagt der Vater und schickt sich an, aufzustehen, bleibt aber auf halbem Wege in der Luft hängen und lässt sich dann wieder auf den Stuhl sinken.
Dann fange ich an, sagt das Kind und schlägt den Ordner auf. Mein Anwalt hat da ein paar Präzedenzfälle vorbereitet, möchtet ihr drüberschauen.
Die Mutter hat sich im Moment des Ordneraufschlagens instinktiv vorgebeugt und begutachtet nun unsicher die auf dem Kopf stehenden Sätze. Das Kind dreht den Ordner um neunzig Grad, um ihr entgegenzukommen.
Die Mutter liest, der Vater knackt mit den Fingergelenken. Das Kind wartet höflich. Irgendwann beginnt die Mutter zu weinen, ihre Tränen drohen die Dokumente zu wellen, weshalb das Kind den Ordner fürsorglich aus dem Tränenfallbereich entfernt.
Ich gehe davon aus, dass ihr im Haus wohnen bleiben möchtet, sagt das Kind.
Der Vater springt nun doch auf, er hat seine Fäuste geballt, weiss aber nicht, wohin damit und lässt sie schnell wieder sinken.
Hermann, sagt das Kind, es geht ja nicht darum, euch etwas wegzunehmen. Es geht im Grunde eigentlich nur um Emanzipation, um eine einvernehmliche Trennung und die Verwaltung des Vermögens.
Ich dachte, du hast einen Chemietest heute in der ersten Stunde, sagt die Mutter.
Der ist nächste Woche, sagt das Kind, mach dir keine Sorgen.
Man schweigt, das Kind blättert im Ordner, den es wieder zu sich hingedreht hat.
Hier, sagt es, gibt es zum Beispiel einen interessanten Fall, der von den Grundvoraussetzungen her ganz ähnlich ist. Vermögen des Unterhaltsberechtigten dreiundzwanzigkommavier Millionen. Vermögen der Erziehungsberechtigten siebzehntausend. Der Unterhaltsberechtigte überlässt den Erziehungsberechtigten das Wohnrecht in der Familienimmobilie und verzichtet auf Unterhaltszahlungen. Emanzipation im Alter von acht Jahren.
Johnny, weint die Mutter, ich verstehe das alles nicht. Letztes Jahr warst du doch noch im Schwimmteam und dieses Jahr hast du eine Internetfirma.
Wer hat ihm denn die Flausen in den Kopf gesetzt, sagt der immer noch im Raum stehende Vater, das bist doch du gewesen, oder nicht, Margarete. Du hast ihm doch immer gesagt, dass er alles schaffen kann, was er will im Leben. Du hast ihm doch dieses Poster gekauft: Follow Your Dreams.
Du hast mich wirklich sehr unterstützt, Margarete, sagt das Kind, dafür möchte ich dir ausdrücklich danken. Deshalb will euch eben auch nicht mit nichts zurücklassen. Ihr habt mir etwas gegeben über die letzten sieben Jahre, und ich möchte euch dafür etwas zurückgeben, allerdings sehe ich auch nicht ein, warum ich mit meinem hart verdienten Geld deine Saisonkarten finanziere, Hermann. Der FC hat sowieso keine Chance aufzusteigen.
Der Vater schlägt mit der Hand so stark auf den Walt-Disney-Schreibtisch, dass der Ordner einige Seiten von selbst umblättert.
Jetzt reichts, Johnny, brüllt er, du hast bis vor ein paar Wochen auch noch das Trikot getragen und bist neben mir im Stadion gesessen.
Bitte beruhige dich, Hermann, sagt das Kind, nimms nicht persönlich. Menschen entwickeln sich in unterschiedlichem Tempo, das ist ganz normal. Ihr stammt eben aus einer anderen Generation, die mit den Regeln des Marktes nicht so vertraut ist wie ich. Heute passieren die Dinge schneller als in eurer Jugend. Das hat alles seine historische Berechtigung. Sonst hättet ihr euch ja auch nie im Park kennengelernt und es gäbe mich gar nicht.
Ja, sagt der Vater, das stimmt, dann gäbe es dich gar nicht.
Die plötzliche Zustimmung des Vaters lässt eine angenehme Ruhe im Raum entstehen. Bitte unterschreibe hier, sagt das Kind und schiebt der Mutter das Formular hin.
Mir brauchste das Ding gar nicht erst hinschieben, sagt der Vater.
Okay, sagt das Kind, dann besprechen wir beide uns noch einmal mit unserem Rechtsbeistand und treffen uns übermorgen zur gleichen Zeit wieder. Danke, Margarete, für die Kooperation, danke, Hermann, für die Redebereitschaft.
Das Smartphone des Kindes vibriert. Alle Blicke treffen sich auf dem Bildschirm des Geräts.
Lasst euch nicht ablenken, sagt das Kind. Es scannt mit dem rechten Auge die Betreffzeile. Google AdSense hat zwei seiner umsatzstärksten Tumbler-Accounts gesperrt.
Fuck, murmelt das Kind in seinen Krawattenknoten.
Das sagt man nicht, mein Schatz, sagt seine Mutter.
Julia von Lucadou
1982 in Heidelberg geboren, hat Julia von Lucadou ein Studium der Filmwissenschaften mit dem Doktorat abgeschlossen. In der Folge arbeitete sie als Regieassistentin und TV-Redaktorin. Bis 2017 studierte sie am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Ihr 2018 erschienener Debütroman «Die Hochhausspringerin» wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert.