Es wird einem kalt ums Herz, wenn man in Julia von Lucadous Zukunftsszenario eintaucht: Die in Genlaboren gezüchteten Menschen leben unter ständiger Überwachung in sterilen Städten. Was zählt, ist Leistung. Selbstoptimierung ist das Zauberwort – eine Welt aus Credit Unions, Vitality-Score-Index und anderen Anglizismen zum Trimmen der Menschheit.
In diese Szenerie setzt die 36-jährige deutsche Autorin zwei Frauenfiguren. Die Sportlerin Riva hat als Hochhausspringerin Millionen von Fans – doch plötzlich weigert sie sich, zu trainieren, sitzt apathisch in ihrem Luxus-Appartement. Die Wirtschaftspsychologin Hitomi, eine junge, ehrgeizige Aufsteigerin, soll Riva wieder funktionstüchtig machen – und gerät dabei selbst unter enormen Druck. Denn wer die Leistung nicht erbringt, dem droht die Ausschaffung in die verwahrloste Peripherie.
Die in Köln, Biel und New York lebende Autorin ist mit ihrem Roman, der am Literaturinstitut in Biel entstanden ist, für den Schweizer Buchpreis nominiert. Julia von Lucadou gelingt eine höchst beklemmende und packende Gesellschaftsstudie, die bestehende Verhältnisse in zugespitzter Form abbildet. Der kulturtipp hat mit der Autorin per Skype aus Köln gesprochen.
kulturtipp: Julia von Lucadou, inwiefern haben Sie sich für Ihren Roman an der Realität orientiert?
Julia von Lucadou: Sehr stark. Ich habe mich viel mit digitalen Plattformen beschäftigt. Etwa mit dem Skandal, dass Facebook psychologische Experimente an Usern durchgeführt und Daten manipuliert hat, ohne dass diese davon wussten. Es hat mich getroffen, dass dieser Übergriff keine rechtlichen Konsequenzen hatte und der Protest klein blieb. In meinem Roman wollte ich die Invasion der Privatsphäre durch die digitalen Medien thematisieren. Ich wollte zeigen, wie diese Medien unseren Drang zur Selbstoptimierung, die Leistungsorientierung und den Wettbewerbsgedanken anstacheln.
Sind Sie selbst auf Facebook, Twitter, Instagram präsent?
Ich bin nicht mehr aktiv, weil ich gemerkt habe, wie angreifbar man da ist. Grundsätzlich finde ich digitale Medien aber eine tolle Möglichkeit zur Kommunikation. Sie tragen zur globalen Vernetzung bei: Im Arabischen Frühling hat man gesehen, welche politische Sprengkraft sie haben. Bei #MeToo hatten sie eine verbindende Funktion: Sie können ein Forum für Diskussionen schaffen, die auch in der Realität Konsequenzen haben. Ich bin nicht gegen neue Technologien, sondern für eine stärkere Regulierung und klare Grenzen. Privatsphäre ist ein Grundrecht. Wenn man einigen wenigen Konzernen die Macht über private Daten gibt, sind die Möglichkeiten der Diskriminierung hoch.
Haben Sie beruflich ähnliche Erfahrungen gemacht wie Hitomi, die im Roman stark unter Druck gesetzt wird?
Das Buch ist auch von eigenen Erfahrungen inspiriert. Während meiner Ausbildung und später als Fernsehredaktorin habe ich gemerkt, wie krass ich bereit bin, alles für die Karriere aufzugeben. Es ist eine Art freiwillige Selbstausbeutung. Dann habe ich angefangen, dieses System, das auf Druck aufbaut, zu hinterfragen. Wie ist diese Leistungsorientierung in der Gesellschaft verankert? Warum fühlen wir uns weniger wert, wenn wir nicht so viel leisten?
Sie schaffen eine erschreckend kalte, sterile Atmosphäre. Diese widerspiegelt sich auch in der Sprache …
Ja, es war schnell klar, dass es eine glatte, funktionale Sprache sein muss, die infiziert ist von dieser Markenlogik. Es ist eine Computersprache, die wenig Raum lässt für Subtilität oder Poesie. Sie dient nur der klaren Verständigung.
Sie sind als Simulationspatientin tätig. Hat dieser Job Ihnen als Autorin geholfen, sich in Figuren hineinzuversetzen?
Man kann das tatsächlich vergleichen. Als Simulations-patientin lernt man viel über Empathie und zwischenmenschliche Verständigung. Rückwirkend gesehen hat mich diese Tätigkeit wohl unbewusst beim Schreiben beeinflusst: Bei den Prüfungen der Medizinstudenten muss ich mich als Simulationspatientin an Standardisierungen halten, damit alle dieselben Voraussetzungen haben. Die Kehrseite ist, dass sich die Studenten unter Druck nur an die vorgegebenen Gesprächsprotokolle halten, nur die Fragen stellen, für die es Punkte gibt. Solche mechanischen Gespräche gibt es auch unter meinen Romanfiguren.
Lesungen
Sa, 10.11.:
14.00 & 17.00 Volkshaus Basel
22.00 Jazz Campus Basel
So, 11.11.: 11.00 Theater Basel
Buch
Julia von Lucadou
Die Hochhausspringerin
288 Seiten
(Hanser 2018)