Unzählige Milliarden Jahre gibt es uns nicht. Dann werden wir geboren und dürfen wenige Jahre auf diesem Planeten verbringen. Müssten wir uns nicht in Dauerekstase befinden? Als Kinder verstehen wir das – zu Bett gehen ist schlicht absurd. Ein paar Jahre verstreichen. Und schon füllen wir Steuerformulare aus, kaufen Filzgleiter für unsere Stühle, schleppen unsere ermüdeten Körper zwischen grauen Gebäuden hin und her. Unsere Nerven – gibt es sie überhaupt noch? In Gedanken erdrosseln wir den schmatzenden Mitmenschen, verpassen einem grölenden Teenager eine knallende Ohrfeige. Dieses ganze Erwachsensein, so scheint es, ist lediglich ein aggressiver und überwältigender Wunsch nach Ruhe.
Diese Ruhe, so wird uns erzählt, läge in den Bergen, in der Achtsamkeit, in zahlreichen Dingen, die immer anderswo sind. In unserer Verzweiflung geben wir Geld für Ratgeber aus, laden Meditations-Apps runter, lechzen nach dem Vollkommenen, zum Beispiel nach dieser unversehrten Natur. Der Himmel spiegelt sich vor unserem inneren Auge in silbern funkelnden Seen, ein sanfter Wind streichelt unsere Wangen, leise Pfauenrufe ertönen am Horizont. An diesem Sehnsuchtsort, so bilden wir uns ein, würden wir endlich ausschlafen, meditieren, achtsam Sellerie kauen. Wir sitzen einer Lüge auf.
Wie perfide in Sachen «Ruhe» missioniert wird, wurde mir bewusst, als ich mir neulich einen Videoclip der «School of Life» ansah, einer Atheistenschule, gegründet vom Philosophen Alain de Botton. «Calm» heisst dieses dreiminütige Werk und kommt daher wie die Reklame eines Wellness-Hotels. Es wendet sich speziell an die Angsthasen und Gestressten unter uns. Gezeigt wird als Erstes, wie eitle Grossstadtmenschen in Symbiose mit ihren Smartphones und Laptops durch die Strassen hetzen – wie armselig! Dann, endlich, erfahren wir, wie Ruhe geht.
Eine gesalbte Stimme aus dem Off erinnert uns Falschlebenden daran, dass wir unbedeutend sind: «Alles, was wir machen, ist eigentlich sinnlos.» «Schauen Sie nur», raunt die Sprecherin, «diese Familie in Kambodscha weiss nichts von Ihnen!» Spielende, lachende Kinder rennen auf lehmigem Boden vor der Kamera herum – arm, aber glücklich. Schnitt. Eine nachdenkliche Frau mit Pferdeschwanz und Outdoor-Jacke blickt auf eine sich kräuselnde Wasserfläche. Wir ahnen, sie quillt vor Unwichtigkeit beinahe über: Sie hat ihre Ruhe gefunden.
Ich bin froh, dass ich diesen Clip gesehen habe, denn jetzt kann ich mich neben anderen religiösen Institutionen auch mit gutem Gewissen von der «School of Life» distanzieren. Auch hier scheint nämlich die Vorstellung zu gelten, Menschen würden ohne Weisheits-Berieselung kopflos durchs Leben taumeln und seien unfähig, eigene Entscheidungen zu fällen. Darüber hinaus bedient sich die Atheistenschule jahrtausendealter buddhistischer Lehren, die das Ego zu überwinden versuchen, und bietet diese als instant-Erleuchtung an. Es ist nicht nur frech, sich bei einer Religion so zu bedienen, sondern zeugt auch noch von fehlender Fantasie.
Ob wir uns gesellschaftlichen Konventionen unterwerfen, in der Stadt leben, Kinder kriegen, Karrieren verfolgen, Arzttermine wahrnehmen, Wahlzettel einwerfen. Wir entscheiden selbst. Auch wenn das verdammt anstrengend ist, ist es gleichzeitig das Schönste und das Spannendste am Leben.
Schälen wir die Vorstellung von Ruhe doch in ihre Bestandteile. Steckt da nicht eher eine Sehnsucht nach Befreiung dahinter? Die Lust, eine Fassade fallenzulassen, ein Korsett abzustreifen, und nicht zuletzt, endlich eine Entscheidung zu fällen, die nicht allen gefällt? Wir Individuen haben, so vermute ich, alle eine ganz subjektive Vorstellung von Ruhe, wenn wir ehrlich sind. Nichts gegen die Natur, ihre Heilkraft und ihr Erholungspotenzial, aber vielleicht müssen sich die einen unter uns zugestehen, dass sie weder Lust auf Alphütte noch Palmenstrand noch Yoga und Wellness haben.
Manche Menschen finden ihren Seelenfrieden im Zentrum des Bienenstocks. Zum Beispiel Roland Barthes, der sich mitten in Tokio entspannte, weil er kein Wort Japanisch verstand: «Welche Ruhe im Ausland! Dort bin ich sicher vor Dummheit, Gewöhnlichkeit, Eitelkeit und weltmännischem Gehabe, vor Nationalität und Normalität», schreibt er in seinem Buch «Das Reich der Zeichen».
In meiner verzweifelten Suche nach Ruhe habe ich mir schon vorgestellt, dass ich eine kriminelle Tat begehen könnte, sagen wir einen Banküberfall. Im Gefängnis, so bilde ich mir dann ein, könnte ich dann endlich alle Bücher lesen, auf die ich Lust habe. In einer anderen Fantasie steht alles still, alle, bis auf ein paar liebenswürdige Menschen, würden mitten in ihrem Tun gestoppt – vielleicht ein Jahr lang. So würde ich unbeobachtet durch die Stadt wandeln und jeden Tag einen gemütlichen Spaziergang machen und endlich alles genauestens inspizieren.
Wenn ich noch intensiver darüber nachdenke, in welchen Momenten ich wirklich Ruhe und Zufriedenheit verspüre, muss ich an einen Traum denken. In diesem schrie ich einem Unbekannten eine gefühlte Stunde lang ins Gesicht – an den Inhalt meiner Tirade kann ich mich leider nicht erinnern. Meine angestaute Wut polterte wie eine Gerölllawine auf mein armes Gegenüber, das immer kleiner und unschärfer wurde. Ich kann mich an kein erholsameres Aufwachen erinnern.
Muss ich nun daraus schliessen, dass meine Art der Erholung darin liegt, jemandem so richtig die Meinung zu geigen? Ich vermute, ja. Und genau genommen ist Schreiben für mich lediglich die etwas feige und indirekte Kunst, genau dies in Slow Motion zu tun. Das Schreiben selbst kann zwar bisweilen energieraubend und quälend sein, die Ruhe danach jedoch ist umso grösser.
Julia Kohli
Julia Kohli, geboren 1978 in Winterthur, absolvierte eine Buchhandelslehre. Ausserdem studierte sie Wissenschaftliche Illustration sowie Anglistik und Osteuropäische Geschichte in Zürich. Sie arbeitet als freie Illustratorin und Journalistin und schreibt zurzeit ihre Masterarbeit in Kulturpublizistik. 2019 ist ihr Debütroman «Böse Delphine» im Lenos Verlag erschienen. Die Autorin lebt in Zürich.