Eigentlich hat Henning keinen Grund, sich zu beklagen: «Keine schweren Krankheiten, keine Todesfälle», zwei gesunde Kinder, eine funktionierende Ehe, wie er resümiert. Und dennoch gleicht sein Leben einem Albtraum. Denn immer wieder sucht «ES» ihn heim. So nennt Henning seine Panikattacken, die ihn manchmal am helllichten Tag überfallen.
Eine folgenreiche Velotour
Die 44-jährige deutsche Autorin und Juristin Juli Zeh erzählt in ihrem Roman «Neujahr» von einem Mann im sogenannt besten Alter, der sich den hohen Anforderungen des Alltags nicht gewachsen fühlt. Mit seiner Frau Theresa lebt er eine gleichberechtigte Beziehung. Da er weniger verdient, engagiert er sich umso mehr bei der Hausarbeit und der Kinderbetreuung. Dennoch hat er ständig ein schlechtes Gewissen – seinem Arbeitgeber, seiner Frau, seinen Kindern gegenüber. Er setzt sich selbst so stark unter Druck, dass er unter Angststörungen leidet: «Trotz allem erlaubt ihm die Angst vor den Anfällen, im Alltag zu funktionieren. Aber sie macht den Alltag zur Hölle. Er ist allein, eingesperrt in seinem persönlichen Fegefeuer.»
Ihren Roman siedelt die Autorin auf der kanarischen Insel Lanzarote an, die sie von eigenen Aufenthalten kennt. Der Protagonist Henning macht hier mit seiner Familie Ferien. Am Morgen nach Silvester unternimmt er alleine eine Velotour auf einen Pass. Mit jedem Tritt in die Pedale strampelt er seinen Frust heraus. Was sich anfangs gut anfühlt, bringt ihn mit zunehmender Steigung, falscher Ausrüstung und ohne Proviant an seine körperlichen Grenzen – und darüber hinaus. Eindringlich beschreibt Juli Zeh, wie sich seine Wahrnehmung allmählich verschiebt: «Während sich Henning von ihm entfernt, gegen Wind und Steigung anstrampelnd, guckt der Hirte ihm nach. Er scheint sich zu drehen, ohne die Beine zu bewegen, wie eine Puppe in der Geisterbahn.» Auf der Hochebene angekommen, bricht Henning vor einem Haus zusammen und wird von der Besitzerin aufgepäppelt.
Hier setzt der zweite und stärkste Teil des psychologischen Thrillers ein: Denn an diesem Ort wird Henning plötzlich von Erinnerungen übermannt. Verdrängtes taucht aus seinem Unterbewusstsein auf. In einer Rückblende, die Juli Zeh aus der Kinderperspektive des vierjährigen Henning erzählt, wird ein Drama seiner Kindheit aufgerollt. In ebendiesem Haus auf Lanzarote verbrachte er damals mit seiner Familie die Ferien. Hier erlitt er ein Trauma, das er in die Vergessenheit geschickt hat, bis es ihn nun – als Erwachsenen – mit voller Wucht einholt.
Modernes Familiengefüge unter der Lupe
Die politisch engagierte Schriftstellerin Juli Zeh greift in ihren Romanen wie etwa in «Leere Herzen» immer wieder brisante Gesellschafts-Themen auf. Mit «Neujahr» begibt sie sich nun auf tiefenpsychologisches Terrain. Indem sie ein modernes Familiengefüge unter die Lupe nimmt, ist ihr Buch aber auch ein spannender Beitrag zur permanenten Überforderung der Gesellschaft. Mit der Figur des abgekämpften Vaters erzählt sie für einmal aus der Sicht des Mannes, der sich zwischen seinen verschiedenen Rollen als Vater und Ehemann, zwischen Beruf und Familie, nicht mehr zurechtfindet.
Buch
Juli Zeh
Neujahr
192 Seiten
(Luchterhand 2018)