«Dich mach ich fertig», sagt eine junge Frau und wirft eine verschrumpelte Karotte durch den Raum. Sie trägt einen Stroh- hut. Eben hatte sie noch eine schwarze Lackmütze auf dem Kopf. Während sie ihre Kopfbedeckungen wechselt, verändert sich auch ihr Ton: nüchtern, fordernd, gebieterisch. Wir sind mitten im Stück «Ich-mein Körper- Ich – Ein Hungerreigen», einem von fünf Beiträgen, die von der Jungen Bühne Bern für das Festival der Satelliten 2022 ausgewählt wurden.
Raum zum Experimentieren
Die Idee dazu entstand aus dem Bedürfnis der Jugendlichen, eigenständige Produktionen umzusetzen. Die zweite Staffel wurde ab 2020 national ausgerichtet. Dieses Jahre haben sich 22 Gruppen beworben. Am sogenannten Try Out spielen nun die fünf ausgewählten Ensembles eine zehnminütige Sequenz, um anschliessend mit den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern und den Theaterschaffenden, die als Mentoren wirken, darüber zu diskutieren. Was funktioniert? Woran könnte man noch feilen? Auch die ehemaligen Leiter der Jungen Bühne Bern, Eva Kirchberg und Christoph Hebing, sowie das seit Anfang dieser Saison amtierende Duo Luzius Engel und Bea Schild sind mit von der Partie. Theaterpädagogin Karin Maurer, welche die Tagesleitung innehat, betont: «Wir stellen den Jungen Raum zur Verfügung, unterstützen sie finanziell. » Bei der Inszenierung hingegen sollten sie möglichst frei sein.
Themen aus dem eigenen Leben gegriffen
Nina Sautter (22), die im Stück «Ich-mein Körper-Ich – Ein Hungerreigen» als Einzelkämpferin auf der Bühne steht, ringt mit Kalorien und Kühlschränken. Sie hat ihre eigene Diät zum Thema gemacht. «Als ich viel abgenommen habe, hat sich die Aussenwahrnehmung auf mich verändert», sagt die junge Frau. «Das hat mich beschäftigt.» Das Schreiben des Textes habe etwas Befreiendes gehabt. «Ich will zeigen, wie absurd das Ganze ist.» Auf ihren Auftritt folgt eine Gruppe mit dem Stück «Sogni d’oro». Die Jugendlichen posieren wie eingefroren für ein vermeintliches Gruppenfoto. Allmählich löst sich die Truppe auf. Plötzlich sitzen alle am Boden vor Tastaturen. Die emsig Tippenden befinden sich offensichtlich in einem Grossraumbüro. Das Telefon klingelt, und eine Mitarbeiterin nimmt den Anruf Spanisch sprechend ab, stellt sich vor und verbindet den Anrufer freundlich weiter. Das «Zentrum für Fachkompetenz» entpuppt sich als kafkaeskes Amt, bei dem scheinbar willkürlich auf Portugiesisch, Spanisch oder im Walliser Dialekt Anrufe entgegengenommen werden. Die Anrufer werden auf Formulare verwiesen und mit Floskeln abgespeist. Schliesslich driftet das Geschehen in eine mechanische Choreografie ab. Jemand beginnt zu stören, stimmt das Kinderlied «Schlaf Kindli, schlaf» an, ein spanisches Kinderlied folgt. Schliesslich lässt sich ein junger Mann wie ein Rockstar fallen und wird schnarchend von der Gruppe weggetragen.
Einblicke in Innenwelten – auch tänzerisch
Bei der Besprechung im Anschluss wollen die Theaterschaffenden wissen, wie das Ganze gewirkt habe. «Ich hätte mir diese Büroszene ewig ansehen können», meint jemand. «Die Bürosprache könnte ruhig noch absurder daherkommen», findet ein Mentor. Vom 20er-Jahre-Arbeiterinnen- Vibe habe man ein wenig wegkommen wollen, erklärt die 21-jährige Darstellerin Valentina Ortega. «Wir wollten unsere eigene Realität darstellen. » Ortega, die Linguistik studiert, wenn sie nicht gerade Theater spielt, erklärt, wie die Gruppe gemeinsam über eigene Träume und Kindheitserinnerungen sprach, um den Text zu entwickeln. Im Stück vermischen sich denn auch zunehmend Tagträumereien und Realität. Das Stück «Haïr le soi» ist die einzige Tanzproduktion am Festival. Der 17-jährige Tänzer und Choreograf Pablo Conca tanzt dabei ein Solo, in dem er seine eigene Geschichte des Selbsthasses erzählt. «Es ist sehr persönlich – ich gewähre einen Blick in meine Innenwelt», sagt Conca. Das Publikum folgt seinen Kämpfen mit Depression, Drogensucht und Identitätssuche. «Techno funktioniert dabei als Katalysator des Hasses in mir», sagt der Tänzer. Vom Zusammenleben in einem besetzten Haus erzählt hingegen das Stück «Tillierstrasse 25. Eine leere Geschichte». «Ein leer stehendes Haus im Kirchenfeld- Quartier war der Auslöser», sagt Silvan Müller (24). Drei der insgesamt sechs Mitwirkenden werden für dieses Stück auf der Bühne stehen, die anderen sind für Musik und Technik zuständig. Müller, der Theaterwissenschaft und Philosophie studiert, hat seinen eigenen Wohntraum bereits in die Realität umgesetzt. Er wohnt tatsächlich mit neun anderen Leuten in einem grossen Haus zusammen, wie er verrät. «Die Gentrifizierung hat uns inspiriert.» Ein eigenes Stück zu entwickeln sei für ihn als Theaterwissenschafter eine tolle Gelegenheit gewesen, die Theorie in die Praxis umzusetzen.
Griechische Mythologie und Tik Tok
Anna Glünz (20) spricht schliesslich für die Gruppe aus Zürich, die mit «Born to die» das Schicksal verhandelt. «Wir werfen Fragen auf. Gut möglich, dass man am Ende verwirrt zurückbleibt», sagt Glünz, die Regie führt. Im Stück werden unter anderem Phänomene des beliebten Videoportals Tik Tok aufgegriffen. Auf der Bühne stehen drei Figuren, die man aus der griechischen Mythologie kennt: die Moiren, die den Lebensfaden spinnen, wickeln und abschneiden. Sie tragen lange, weisse Togen und verhandeln mit Witz, untermalt von einem Song von Lana Del Rey, Bewältigungsstrategien gegen alles Unabwendbare.
Festival der Satelliten
Do, 18.8.–So, 28.8., Brückenpfeiler
Dalmaziquai 69, Bern
www.junge-buehne-bern.ch