Im dritten Akt tritt L auf; sie ist eine Verführerin. L will der Gemeinschaft der Mondkreisläufer, nachdem sie von diesen aufgenommen wurde, Mut zusprechen. Das ist ein Auszug aus Ls Monolog:
Du kannst dich von deinen düsteren Gedanken losreissen, alles hinter dir lassen. Es ist deine Freiheit, zu tun und zu lassen. Du kannst deine Socken ausziehen, den Raumanzug ausziehen, du kannst mit anderen im Gleichschritt barfuss über einen Teppich gehen, du kannst aber auch vor Glück den Mond anheulen, du kannst dein Leben so gestalten, wie du es für richtig hältst, sei so frei. Du kannst die Hände deiner Mutter küssen, du kannst ihr aber auch sagen, du würdest sie noch nicht kennen, dich von ihr verabschieden, um deine Mutter zu finden. Du kannst dich selber weiss anstreichen. Halte die Augen offen, und wenn du sie schliesst, versuche, die Welt so zu sehen, wie du sie sehen willst, oder aber so, wie sie dir gezeigt wird. Oder stell dir vor, die Welt wäre verschwunden. Verstelle dich. Wenn du jung bist, liegen viele Wege vor dir, die dich einladen, auf ihnen zu gehen, du kannst dich für einen entscheiden, findest du noch nicht den nötigen Mut, dann warte ab, iss ein Pausenbrot, übe den Kopfstand, du kannst aber auch einfach Wege ausprobieren, gehe vielleicht nicht zu weit, so kannst du sie locker zurückgehen, du kannst jemanden um Rat bitten, einen guten Freund vielleicht oder deine Familie, aber auch einen Fremden, denn er ist dir nicht ferner als du dir selbst. Wenn du älter bist, liegen immer noch viele Wege vor dir, die dich einladen, auf ihnen zu gehen, du hast nicht mehr dieselben Möglichkeiten, klar, aber dafür hast du neue, sei mutig, fürchte dich nicht. Deine Ängste und Sorgen sind mir vertraut. Das gleicht sich schon aus. Das Leben ist ein Wunder. Willst du zum Beispiel Französisch lernen, gehe in die Schule, besser aber gehst du einfach nach Frankreich, nach Marseille oder nach Paris, wohin du auch gehst, gehe, ohne etwas zu wollen, und du lernst die Sprache ganz nebenbei, wenn du in Paris bist und kein Geld mehr hast, dann kannst du in einer Bäckerei, in einem Supermarkt oder in einem Hotel nach Arbeit fragen, oder erzähl der Regierung, du möchtest gerne ein Raumschiff bauen, und frag, ob sie dich unterstützen wollen, so könntest du bald ins Weltall fliegen und dort zum Beispiel Rohstoffe einsammeln. Nebenbei würdest du Französisch lernen. Wenn du aber in Frankreich keine Arbeit und kein Wohlwollen findest, findest du sie woanders, du musst die Arbeit nicht suchen, sie wird zu dir finden. Schreib deinen Namen auf ein Stück Karton und gehe lächelnd durch die Strassen. Du solltest dir immer mal wieder Auszeiten zugestehen, lege dich hin, nimm ein Bad, oder lass dich auch mal fallen, zweifle nicht zu viel, du wirst wieder aufstehen. Du kannst einfach in den Tag hineinleben oder ihn verplanen, das liegt bei dir, vertraue auf deine Intuition, vertraue auf deine Vernunft, lerne, dich richtig einzuschätzen, spar deine Kräfte. Du kannst auch nach Spanien gehen, um dort Theologie zu studieren, wenn du willst, kannst du Priester werden, du kannst aber auch Stararchitekt in Dubai werden und Hochhäuser für dich alleine bauen, oder du kannst Koch in einem Luxushotel in Interlaken werden und 16 Stunden am Tag arbeiten oder Tennislehrer für Millionärswitwen in Florida oder Kriegsfotograf auf der Erde. Du kannst mit vereinsamten Kindern in einer japanischen Tagesstätte arbeiten oder durch Tempel in Athen führen. Du musst aber gar nichts, du musst nicht arbeiten, vielleicht gibts auch keine Arbeit mehr, vielleicht wird bereits alles von anderen oder von Maschinen erledigt, auch gut, du musst deine Möglichkeiten nur erkennen, erkennst du sie nicht, wird dich jemand darauf aufmerksam machen, bist du noch nicht bereit dazu, entspann dich, alles geht weiter. Setze dich in Yverdon vor ein Café und trinke und spreche mit den Leuten, geniesse den Sonnenuntergang mit ihnen. Wenn es mal nicht nach deinem Kopf geht, verzage nicht, bald wirst du wieder ein Erfolgserlebnis haben und wirst zurückschauen und über dich lachen. Wenn du schon Architekt bist, aber du inzwischen Lehrer auf dem Land werden möchtest, tue es, niemand wird dich davon abhalten, deine Freunde werden den Entscheid begrüssen, sind deine Freunde aber dagegen, so höre besser nicht auf sie, vertrau auf deine innere Stimme, lass dich nicht aus der Ruhe bringen, mach dich locker, sei erleichtert und exe eine Flasche Champagner und rühre dich auf dem Liegestuhl in Rio de Janeiro eine Zeit lang nicht mehr, während du übers Meer blickst. Oder koche mit Resten einfach was Feines in deiner gemütlichen kleinen Wohnung in Braunschweig, danach streiche sie bis in den hintersten Winkel grün an, singe dem Kaktus ein Ständchen. Du kannst aber auch auf meinen Rat pfeifen und Musiker werden. Fühle dich wohl in deiner Haut, schätze dich und deine Kräfte richtig ein, dementsprechend verändere dein Leben, sei mutig, für deinen Mut wirst du belohnt werden, und klappt es mal nicht, so klappt es ein anderes Mal. Wenn ... »
Jürg Halter
Der 36-jährige Schriftsteller, Performer und Musiker hat an der Hochschule der Künste Bern studiert. Er tritt in ganz Europa, in den USA, Afrika, Russland und Japan auf und hat zahlreiche Bücher sowie CDs veröffentlicht. Im August erscheint das Buch «Das 48-Stunden-Gedicht» (Wallstein Verlag): ein Kettengedicht, das er mit dem japanischen Dichter Tanikawa Shuntaro in Tokio geschrieben hat. Das Inszenierungskonzept zu seinem ersten Theaterstück «Mondkreisläufer» hat er mit dem Regisseur Cihan Inan entwickelt. Die Uraufführung findet am Sa, 10.9., im Konzert Theater Bern statt.
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