Umgang mit Toren
Die Noten müssen bis heute Mittag eingetragen werden, danach schliesst das System seine Tore. Die Nachricht, die per Mail kam, verfehlt ihren dringenden Ton nicht und stürzte eine Aushilfelehrerin in Verzweiflung. Sie versuchte hektisch, das Sekretariat anzurufen, während sie sich an eine Szene aus ihrer Kindheit erinnerte. Diese Szene hatte sie selbst gefilmt, mit den Kameras ihrer eigenen Augen. Zu spät war sie zum Parkplatz gekommen, wo der grüne Schulbus wartete, um die Kinder in den obligatorischen Schwimmunterricht zu fahren. Gerade noch konnte sie sehen, wie er wegfuhr und stürzte ihm unter lauten Tränen nach, rief und schrie, doch nichts mehr brachte ihn zum Halten. Ein Gefühl unendlicher Angst hatte das übrigens als hässlich empfundene Kind befallen, als ob es ab jenem Zeitpunkt allein, ganz allein auf der Welt gewesen wäre. Das Kind hatte das Gefühl, der Busfahrer habe aus ästhetischen Gründen nicht angehalten, weil er das Kind nicht süss, sondern hässlich fand. Eine junge Frauenstimme nahm ab, es war eine Sekretärin. Sie vernahm das Problem: Auf dem Mäppchen, in dem der Aushilfelehrerin die zu korrigierenden Aufnahmeprüfungen überreicht worden waren, stand das Datum des morgigen Tages. In einem Mail des Sekretariats war aber das Datum des heutigen Tages vermerkt gewesen. Dieses hatte die Aushilfelehrerin leider nicht gelesen, ein Fehler, der ihr heisse Scham und Schuld durch den Körper jagte. Es war elf Uhr morgens und unmöglich, dass sie die Noten bis zwölf Uhr mittags ins System eintragen konnte, bevor es seine Tore schloss. Sie sah vor ihrem inneren Auge die riesigen Tore einer mittelalterlichen Stadt, nur ein Spalt in ihrer Mitte war noch offen. Durch diesen Spalt konnte man das fröhliche Treiben im Inneren der Stadt erkennen, die frohen Gerüche riechen, Fetzen heiterer Musik drangen daraus hervor. Die Stimme der jungen Sekretärin klang traurig und hoffnungslos, als ob sie einen persönlichen Kampf verloren hätte. Sie konnte es absehen. Das System würde seine Tore schliessen, ohne dass alle Noten eingetragen worden waren. Als einzige Schule unter allen – denn das System hatte alle Schulen des Landes unter seine Herrschaft genommen – hatte es jene Schule, von der sie eine Sekretärin war, nicht geschafft. Die Aushilfelehrerin sah ihre zwölf Prüfungen als verstaubte Ritter ausser Atem in der Abenddämmerung keuchend vor dem Stadttor ankommen, um mit eigenen Augen Zeugen davon zu werden, wie der immer enger gewordene Spalt sich endlich ganz schloss. Sie standen in der Dunkelheit, im Regen und im Gestank, während innerhalb der Stadtmauern schönes Wetter herrschte. Die Sekretärin war den Tränen nahe. Etwas hat mit der Kommunikation nicht ganz geklappt, murmelte sie niedergeschlagen. Sie machte der Stellvertreterin keinen Vorwurf, sondern nahm alle Schuld auf sich. Der Stellvertreterin tat es immer noch sehr leid, aber da sie nicht mehr, wie zuerst gedacht, allein schuld war, fand sie alles verzeihlich und eigentlich gar nicht so schlimm. Man konnte das Tor ja einfach wieder öffnen, oder? Nach Beendigung des Telefonates verfiel sie in ein leises Lachen, das sie in Verdacht brachte, nichts wirklich ernst zu nehmen. Sie verteidigte sich vor einem Baum, der gerade am Zugfenster vorüberflitzte: Das ist nur meine Art, damit umzugehen.
Woher kam das Licht?
Eine Frau, deren Haare sich in einer eigentümlichen Frisur befanden, sass auf dem Platz vor der Oper auf einem grünen Stuhl aus Metall. Woher kam das Licht? Es kam von einen Scheinwerfer im Süden. Die Möwen hatten einen leuchtenden Rand, und die Menschen sahen aus, als wären sie aus ihren eigenen Schatten hinausgeklappt. Es war, als könnte man sie antippen, und sie würden in ihrem langen Schatten, der eigentlich eine Art Behälter war, verschwinden. Die Vögel, Gebäude und Kräne der Stadt würden es geniessen, das war abzusehen. Sie waren dabei, die Menschen zu vergessen, doch wurden sie immer wieder an sie erinnert, was sie verwunderte und störte. Man schliefe in seiner eigenen Hohlform. Man klappte auf und wieder zu. Nur um schnell etwas zu sagen, nur um schnell etwas zu schnappen.
Weiterleiten
Die getarnt ferienmässig angezogene Frau mit der Sonnenbrille, Strandtasche, den Flipflops und so weiter lässt das Gerät sinken und blickt durch das Fenster aus dem Schnellzug, der Richtung Süden donnert. Was machen Sie hier?, fragt ihr Sitznachbar, der sie schon die ganze Zeit gemustert hat, unverhohlen, muss man sagen. Meine Aufgabe besteht darin, zu überwachen, ob sich die Landschaft auch wirklich verändert. Sie scheint mir heute etwas spät dran. Das ist ja interessant. Woran erkennen Sie das? Immer noch stehen überall nicht abgerufene Tannen herum. Die Wiesen sind zu grün. Wo ist das südlichere Gestrüpp? Die kargen Felswände? Die weiteren Felder? Das frage ich mich. Das müsste doch alles schon da sein. Und was machen Sie jetzt? Ich werde es weiterleiten.
Warten
Die Detailfachangestellte wusste nicht im Detail, weshalb sie das Geld an der Kasse im Coop Pronto gestohlen hatte. Als man sie aber danach fragte, habe sie laut Protokoll wie aus der Pistole geschossen geantwortet: Aus Sozialneid. Man glaubte ihr sofort. Im Vertrauen aber hatte sie davor einer Freundin, die auch beim Coop Pronto arbeitete und sogar ihre Vorgesetzte darstellte, erzählt, es sei die schwarze Fläche gewesen, die da zum Vorschein gekommen sei, wo die Hunderternoten fehlten, die sie nicht mehr losgelassen habe. Da, wo nichts ist, kann noch etwas werden. Dieser Satz sei ihr durch den Kopf gegangen, während sie die Noten entfernt habe. Die Vorgesetzte versuchte, dies dem obersten Personalleiter wiederzugeben, denn sie wollte verhindern, dass die Detailfachangestellte ihre Stelle verlor. Und ist es ihr gelungen? Man muss jetzt warten.
Judith Keller
1985 in Lachen (SZ) geboren, lebt Judith Keller heute in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert. Für ihr Debüt «Die Fragwürdigen» wurde sie mit Anerkennungspreisen von Stadt und Kanton Zürich ausgezeichnet. Zuletzt erschien ihr Roman «Oder?» (Der gesunde Menschenversand 2021).