Als ich las, dass die Fische sterben in den Flüssen wegen der Hitze, lief ich schnell durch den Wald zum Zürcher Zoo,
als ob ich dort gerade noch die letzten Tiere sehen könnte, bevor sie alle verschwunden wären. Auch ich schwitzte, aber ich konnte mich mit einem riesigen Strohhut schützen, der sich wie ein Rochen auf meinem Kopf bewegte. Im Wald hielt ich Ausschau nach Tieren. Aber ich sah nur Wege und Bäume. Nach langem Gehen entdeckte ich auf dem Weg endlich einen Rosshaufen, ein Fund, der mich unter diesen Umständen überaus fröhlich stimmte. Immerhin hing auch ein silbriges Vogelgezwitscher in den Bäumen, aus denen verstörende, wahrscheinlich exotische Laute drangen, je mehr ich mich dem Zoo näherte. Endlich erreichte ich die Rückseite des Zoos. Dort standen mehrere Häuser und Gehege, die einst für die Tiere gebaut worden waren. Bäume und Büsche standen in den umzäunten Feldern, Geröll lag auf schiefen Ebenen, Wassertümpel schliefen vor sich hin, und ab und zu lag ein Baumskelett oder ein grosser Stein mitten auf der Fläche, wie um zu beweisen, dass sie das nicht nur in fernen Steppen konnten. Nichts bewegte sich. Nur die süchtig gewordene Sonne stach herab. Ich ging weiter und schaute immer von aussen in den Zoo. Da bemerkte ich, dass die Geräusche, die ich im Wald als exotische Vogelgeräusche wahrgenommen hatte, von einer Horde rasselnder Kinder kam, die auf einem Klettergerüst wie verrückt herumtanzten. Ich ging weiter und an einem langen Neubau des Zoos vorbei, wo an einem Fenster ein Poster angebracht war. Eine riesige Pinguinfamilie war darauf abgebildet, die mir gespenstisch, wie von sehr fern, entgegenblickte. Plötzlich beschlich mich die Befürchtung, dass ich zu spät gekommen war.
Konnte es sein, dass der Zoo nur noch dazu diente, sich an die bereits ausgestorbenen Tiere zu erinnern? Auf Schildern würde man nur noch ihre Namen lesen können, ihre Abbildungen studieren, ihre Gehege betrachten, die in der Höhe befestigten Futternäpfe und die Kletterseile, an denen die Affen sich einst durch den Raum gehangelt hatten.
Entschlossen, der Wahrheit ins Auge zu blicken, betrat ich den Zoo.
Als Erstes fielen mir viele kleine und grosse Menschen auf, die in den Zooshop strömten, in dessen Schaufenster ein riesiger Schneeleopard aus Plüsch lag. Die Menschen besassen verschiedene Dialekte (mehrheitlich Berndeutsch), in denen sie miteinander sprachen, sich etwas von Weitem zuriefen, sich durch diese Rufe verständigten oder nicht verständigten, es war nicht immer zu erkennen. Einige von ihnen assen Eis oder Biscuits in Tierformen, andere kauten einfach so, wieder andere tranken unermüdlich aus einer Wasserflasche, indem sie den Kopf heftig in den Nacken warfen. Viele torkelten wie betrunken von der Hitze herum. Aber vielleicht war das auch ihr normaler Gang. Einige schienen fröhlich zu sein, andere unzufrieden, die meisten müde – aber ich will mich nicht zu weit vorwagen, denn im Grunde wusste ich nichts über sie, und ich sah weit und breit kein Schild, auf dem ich hätte lesen können, wann sie sich wohlfühlten und wie sie es zeigten, was sie gerne assen und wie sie sich in der Paarungszeit verhielten. Ich war mir also nicht sicher, ob ich sie richtig deuten konnte. Darum hörte ich schliesslich auf, sie ratlos anzustarren, ging ein paar Schritte weiter und geriet in eine Ansammlung lebensechter Pinguine aus Stein, die vor dem Eingang verteilt waren und um die herum Kinder rannten. Diese versuchten, die Körperstellungen der Pinguine nachzuahmen, aber es gelang ihnen nicht. Ich nahm es so hin und schritt eisig zu den Felsensittichen. Wie erwartet, waren sie nicht da, doch auf einer Abbildung konnte ich erfahren, wie sie ausgesehen hatten. Ich ging weiter zu den Dottertukanen. Auch diese waren nicht da, können aber, wie ich las, mit ihrem Schnabel, der unbestritten als ihr Hauptmerkmal gilt, die Wärme regulieren. Das Caypara und der Flachlandtapir waren nicht zu sehen. Der südliche Tamadua und der Kaiserschnurrbart-Tamarin glänzten durch Abwesenheit. Ihnen gleich taten es die Europäischen Löffler.
Ich ging ins Amphibienhaus. Eine Tafel informierte darüber, dass 11 000 Amphibienarten vom Aussterben bedroht seien. Ein männlicher Mensch, der in einer von einfamilienhausartigen Gewächsen durchzogenen Steppe in gemässigtem Klima aufgewachsen war, las das und meinte achselzuckend zu einem weiblichen Menschen, wenn 11 000 Arten aussterben würden, dann müsse es ja immer noch viele geben. Nur nicht übertreiben!, meinte er. Die Zootafel aber entgegnete ihm, Frösche seien nützlicher, als man denke. Zum Beispiel wäre fast ein neues Medikament gegen Bauchschmerzen bestimmter Menschen entwickelt worden, aber kurz davor sei die dafür benötigte Froschart ausgestorben. Überzeugte das den Mann? Er las es nicht.
Düster und schwitzend schlurfte ich zu den Pinguinen. Gerade als ich verzweifeln wollte, weil auch ihr Gehege leer war, fiel mir ein, dass ich sie ja schon beim Eingang gesehen hatte. Erschöpft setzte ich mich hin. Da kam eine Frau inmitten einer Kinderschar auf mich zu und sagte, indem sie auf mich zeigte: «Das ist jetzt die australische Mutter!» Sie wiederholte diesen Satz drei Mal. Als ich murmelte, ich hätte keine Kinder, ging sie skeptisch weiter. Sie gehörte zu denen, die es nehmen, wie es kommt. Der afrikanischen Eierschlange auf jeden Fall würde so etwas nicht mehr passieren, dachte ich, ihr Terrarium war leer. Ich ging weiter.
Obwohl der Ameisenbär wie vom Erdboden verschluckt war, ging eine Frau im Gehege herum und warf aus einem Eimer lustlos irgendetwas auf den Boden, nur um zu zeigen, wie man das früher einmal gemacht hatte. Ein Junge sagte in tadelndem Ton: «Dä chunt eigentlich au viel Fueter über.»
Auch bei den Schneeleoparden tat man so, als hätten sie gerade ihr Futter bekommen. Ein Mädchen erzählte ihrem Vater aufgeregt, dem einen Schneeleoparden sei es beim Essenholen aber dumm gegangen, jetzt humple er.
In Wirklichkeit war weit und breit kein einziger Schneeleopard zu sehen. Mir kam in den Sinn, dass es – zumindest unter den Flamingos – das Vorurteil gab, Menschen hätten Fantasie. Vielleicht war da etwas dran. Zumindest hörte ich eine Mutter sagen, als es darum ging, ihr Kind über die Abwesenheit des Tigers hinwegzutäuschen: «Dä Tiger hät sich underem Schtei versteckt, chum Müsli.»
Ich ging weiter und notierte, wie viele Mäuse in einem Leben früher ein durchschnittlicher Wolf oder aber ein Löwe gegessen hatten (ein Löwe: 0, ein Wolf: 50 000), als ein Mädchen auf mich zukam. «Sind Sie Schriiberi?», fragte sie. «Sie sehen genauso aus wie die, die geschrieben hat: ‹Mein halbes Leben ist ein Ponyhof›.» Es machte mich glücklich, dass sie mich der Gattung der Schreiberinnen zugeordnet hatte. Ich schloss daraus etwas fahrlässig, dass der Zoo, wenn nun auch ohne Tiere, es den Menschen leichter machte, herauszufinden, wer sie waren.
Judith Keller
Judith Keller ist 1985 in Lachen SZ geboren. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel studiert und unterrichtet Deutsch als Fremdsprache. Zuletzt ist von ihr der Band «Die Fragwürdigen» (Der gesunde Menschenversand) mit Kürzesterzählungen erschienen. Die Autorin lebt in Zürich.