Wie zerbrechlich das Glück ist, das illustriert die deutsche Schriftstellerin Judith Hermann in ihren Geschichten immer wieder aufs Neue. Liebesbeziehungen, Freundschaften, familiäre Idylle: Manchmal sind sie nicht für die Ewigkeit gebaut. Und meist schleicht sich unbemerkt der Alltag an. So wie bei der Ich-Erzählerin und ihrem Mann Ivo in der Erzählung «Zeugen». Mit Freunden im angesagten Restaurant gepflegt essen, Wein trinken, laue Gespräche führen: Das ist für Ivo ein «Prozedere wie ein Beweis für unsere mittleren Jahre, unsere Schwächen». Die Ich-Erzählerin schildert die Zeit, in der es in der Ehe zu bröckeln beginnt: «Wir waren gerade so weit, dass Ivo in der Nacht weinte. Wir hatten alles vor uns, Packen von Kisten, betrunkene Geständnisse, wir waren am Anfang von alldem.» Das Ende bleibt wie üblich in Hermanns Erzählungen unbestimmt, ein Abtasten «nach einem unwahrscheinlichen Funken, einer Möglichkeit».
Flirrend leicht
Judith Hermanns Figuren werden mit ihr älter. Während es in ihren viel gelobten ersten Erzählbänden «Sommerhaus, später» (1998) und «Nichts als Gespenster» (2003) um Mittzwanziger und ihre unbestimmten Sehnsüchte ging, sind die Figuren im neuen Band im Leben angekommen – scheinbar. Sie sind Mitte 40, haben meist Haus und Familie, sind vielleicht bereits wieder getrennt und bewegen sich in einer gewissen Routine. «Offenbar ist es so, dass ich über die Jahre an ein- und derselben Geschichte schreibe oder über dieselben Menschen in den verschiedenen Phasen ihres Lebens», sagte Judith Hermann gegenüber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung».
Diese unbestimmte Sehnsucht nach dem «echten» Leben ist auch ihren erwachsen gewordenen Figuren nicht fremd. Mit einem Unterschied allerdings: «Die Figuren jetzt haben begriffen, dass diese Sehnsucht nicht erfüllbar ist», sagt Hermann.
Dennoch ist ihr neuer Erzählband nicht von Resignation geprägt. «Lettipark» ist eine flirrend leichte Lektüre voller Poesie, von Melancholie durchwoben zwar, aber zwischen den Zeilen schimmert die Hoffnung durch. Nach ihrem ersten Roman «Aller Liebe Anfang» (2014) kehrt die Schriftstellerin nun zu ihrer Stärke zurück: den kurzen Erzählungen, in denen sie in wenigen Strichen Stimmungen einfängt wie flatternde Schmetterlinge in einem Netz.
Verzauberte Riesin
Etwa in der titelgebenden Erzählung «Lettipark». Darin entdeckt die Erzählerin Rose in einem Supermarkt eine Bekannte von früher: Elena, einst wunderschön, «schwarzäugig und dunkelbraun, angespannt wie eine Bogensehne» ist nun «schwer und alt geworden, phlegmatisch und langsam», eine «schwermütige, verzauberte Riesin». Rose erinnert sich an ihren gemeinsamen Verehrer. Dieser hatte Elena ein Buch mit Fotos aus dem Berliner Lettipark geschenkt, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte. Die Beschreibung des Parks widerspiegelt die Stimmung der Figuren: «Ein Zwischenreich. Eine schwebende, sphärische Welt.» Wege gehen «ins Ungefähre», und am Schluss steht wieder der offene Ausgang: «Worauf wartet sie?» Judith Hermanns Figuren jedenfalls sind noch immer im Ungewissen verhaftet. Und dennoch – man wünscht es ihnen zumindest – offen für das, was noch kommen mag.
Judith Hermann
«Lettipark»
192 Seiten
(Fischer 2016).