Seit ihrem fulminanten Debüt «Sommerhaus, später» von 1998 haftet all ihren Figuren stets etwas Traumverlorenes und Geheimnisvoll-Melancholisches an. In klarer, poetischer Sprache umkreist sie in ihren Büchern die Leerstellen – vieles bleibt im Schwebenden.
Wie es zum unverkennbaren Sound von Judith Hermann gekommen ist, enthüllt die 53-jährige Berliner Schriftstellerin nun ein Stück weit in ihrem neusten Buch «Wir hätten uns alles gesagt». Es basiert auf den Frankfurter Poetikvorlesungen, in denen sie als Gastdozentin erörtert, wie ihr Leben und ihr Schreiben zusammenhängen. Und was ihr Schreiben im Kern zusammenhält.
Ein jähzorniger Vater und eine abwesende Mutter
«Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben», lautet der Untertitel ihrer Vorlesungen. Die Schriftstellerin, die sich in Interviews stets zurückhaltend äusserte, stellt darin unerwartet persönliche Bezüge zu ihrem Werk her und schafft es dennoch, dessen geheimnisvollen Kern zu bewahren.
Denn auch in diesem Text vermischen sich Wahrheit und Fiktion, Erinnerung, Traum und Poesie. Oder, wie es ihr Psychoanalytiker über eine ihrer Erzählungen in einem Brief ausdrückte: «Was für eine unermüdliche Detailarbeit, alles so geschickt zu verfremden, zu entstellen, dass am Ende nichts mehr richtig ist, aber alles wahr.»
Und mit dieser leisen Zurückhaltung erzählt sie auch im neuen Buch, in sicherer Schreibdistanz und ohne rührselig zu werden, von ihrer zerrütteten Familie: dem depressiven und jähzornigen Vater, der jahrelang in der Psychiatrie war, der oft abwesenden Mutter, der abergläubischen, depressiven russischen Grossmutter, dem gefürchteten Grossvater. Und von ihrer Verlorenheit als Kind in einer mit Kisten, Kästen und Schränken zugestellten, dämmrigen Wohnung in Berlin Neukölln: «Unser Haus war ein Haus der Stimmungen, Ahnungen, Verfassungen, es war unsicher, unverständlich und für ein Kind absolut unberechenbar.»
Nur das geerbte Haus am Meer bietet ihr sicheren Unterschlupf. Als junge Frau erlebt sie hier mit ihren Berliner Freunden, ihrer «Wahlfamilie», unbeschwerte Zeiten, ohne dass sie sich jedoch richtig nahekommen – die Verletzungen der Kindheit bleiben stets im Verborgenen.
Tiefenbohrung in ihr Leben und Schreiben
«Ich kann davon erzählen, dass ich das Eigentliche nicht erzählen kann, das Verschweigen des Eigentlichen zieht sich durch alle Texte, und es hat sich schon lange von der Familie ab und nach Aussen gewandt, es hat sich, durchaus im psychoanalytischen Sinne, übertragen», schreibt sie. Hermanns berührender Bericht reicht im dritten und letzten Kapitel bis in die Pandemiezeit 2020, in der sie sich aufs Land zurückgezogen hat, «so exzessiv allein wie nie zuvor».
Die Einsamkeit bietet ihr aber auch die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen. Hier wird sie ihrem einzigen Gesprächspartner Jon «auf den Vorwurf der Geheimniskrämerei hin» erstmals ihr Geheimnis erzählen.
Und auch ihre Leserinnen und Leser bekommen mit dieser Tiefenbohrung in ihr Leben und Schreiben einen unverhofften Einblick.
«Wir hätten uns alles gesagt» ist kein Buch, das sich schnell runterlesen lässt, hebt aber dennoch nicht in diffuse Gedankenströme ab. Denn Judith Hermann versteht es, ihre Reflexionen in poetische Geschichten zu verpacken, in die man eintauchen will, um deren Geheimnis zu ergründen.