Es gibt diese eine schöne Szene im Buch, eine Kindheitserinnerung, welche die Arbeit von Dorothee Elmiger treffend widerspiegelt: Ein fünfjähriges Mädchen auf der Alp freut sich, als es eine leuchtend weisse Ziege auf der Wiese entdeckt, lockt sie zu sich heran. Doch plötzlich tauchen weitere Geissen auf, eine ganze Herde, die auf das Mädchen zutrabt, es von allen Seiten anstupst und bedrängt, ihm mit den Zungen über das Gesicht fährt. «Ich sehe genau, wie das Kind diese Geister, die es kurz zuvor noch rufen wollte, nun mit beiden Händen zu vertreiben versucht …», schreibt die Schriftstellerin.
Auf geheimnisvolle Weise miteinander verstrickt
Ähnlich ist es Dorothee Elmiger manchmal bei der Recherche zum neuen Buch ergangen, wie die 35-jährige Appenzeller Autorin beim Gespräch in ihrer Wahlheimat Zürich erzählt. «Zu Beginn will ich Antworten finden und freue mich, wenn ich auf Fährten stosse, sich ein neuer Zusammenhang für meinen Text erschliesst. Doch plötzlich besteht die ganze Welt nur noch aus diesen Hinwei-sen – und so nehmen die Geister, die ich rief, überhand, und ich versuche, aus der Fülle an Material eine Form zu finden.»
Ihr «Recherchebericht» oder «Journal», wie sie ihr Buch bezeichnet, ist ein assoziatives Geflecht aus Themen und historisch verbürgten Figuren, die auf geheimnisvolle Weise miteinander verstrickt sind. Da ist etwa der Lottokönig Werner Bruni, ein einfacher Berner Arbeiter, der Ende der 1970er-Jahre zum Millionär wird – und nach sechs Jahren Konkurs anmelden, seine Besitztümer versteigern muss. Oder die Psychiatriepatientin Ellen West (1897–1921), die an einer Essstörung leidet und doch «gierig in das Leben hineinbeisst». Eine weitere Figur ist die heilige Teresa von Ávila, die sich nach der Ekstase, der völligen Hinwendung zu Gott sehnt. «Meine Figuren verbindet der Hunger auf das Leben, vielleicht auch das Getriebensein und die Überschreitung von gesellschaftlichen Konventionen», sinniert die Autorin.
Annäherung an politische Themen
Diesen Figuren hat sie sich nach ausgiebiger Recherche in alten Quellen, Büchern oder Dokfilmen angenähert. Daraus hat sie eine Montage aus Fragmenten und Fundstücken gestaltet, die in ihren Wiederholungen von einzelnen Passagen oder Ausdrücken zuweilen wie ein Musikstück erklingen.
Im Hintergrund schwingen stets gesellschaftspolitische Themen mit. Etwa der titelgebende Zucker: «Ein Genussmittel, das Lust aufs Naschen macht, das aber unter Produktionsbedingungen entstanden ist, die eng mit der Sklaverei verknüpft sind», wie sie sagt. Gleichzeitig taucht in ihrem Journal ein erzählendes «Ich» auf, mit dem sie ihre Arbeitsweise und sich selbst reflektiert. «Bei diesem Text war es mir wichtig zu zeigen, wie ich als Autorin mit Haut und Haar involviert bin», sagt Elmiger. «Denn jeder Mensch, jede Gesellschaft steckt im globalen Zusammenhang mit drin.» So klingen im Buch auch Fragen zur vermeintlich neutralen Schweiz und ihrer Beziehung zur Sklaverei an.
Bereits in ihren ersten beiden Romanen, für die sie als junge Autorin viel Kritikerlob und zahlreiche Preise einheimste, näherte sie sich in unkonventioneller Erzählweise politischen Themen an. «Ich vermute, dass ich gerade bei männlichen Kritikern auch auf Anklang gestossen bin, weil ich nicht die so genannten Frauenthemen verhandelt habe und etwa über Bergbau anstatt über Gefühle geschrieben habe», meint sie. «Aber eigentlich ist diese Hierarchisierung von Themen absurd. Ein Buch über die Liebe kann genauso politisch sein wie etwa ein Buch über den Mauerfall. In der Liebe steckt alles drin!» Liebe und weibliche Lust sind denn auch weitere Themen, die im aktuellen Buch spielerisch behandelt werden. Etwa in der Schwärmerei der Ich-Erzählerin für einen gewissen «C.» «Es hat mir Spass gemacht, mich diesem Schwelgen hinzugeben», lacht sie.
Teilnehmen an der Welt, um schreiben zu können
Sechs Jahre sind seit dem Roman «Schlafgänger» vergangen. Eine Zeit, die sie mit Recherchieren und Schreiben genutzt, aber auch ein Geschichtsstudium abgeschlossen hat und ihrem Nebenjob als Kellnerin nachgegangen ist. Schliesslich wolle sie nicht nur im Schreibkämmerchen sitzen. «Ich brauche Menschen, die Stadt, Begegnungen, muss teilnehmen an der Welt, um schreiben zu können – mein Text soll ja nicht aus einem Vakuum entstehen.» Sie ist überzeugt: «Schreiben schärft den Blick nicht nur für den Text, sondern auch für die Welt.»
Buch
Dorothee Elmiger
Aus der Zuckerfabrik
272 Seiten
(Hanser 2020)
Erscheint am Mo, 17.8.