Der pensionierte Geheimdienstler Peter Guillam hat sich auf seinen idyllischen Bauernhof in der Bretagne verzogen, um seine letzten Jahre zu geniessen. Da erhält er einen Brief von seinem ehemaligen Arbeitgeber, dem Spionagedienst MI6: Der Alte soll sich «unverzüglich» nach London aufmachen – keine Bitte, ein Befehl mit schlecht verhüllter Drohung von «Konsequenzen». Guillam erkennt bei seiner Ankunft in England, dass alles anders ist. Nichts erinnert mehr an die beschaulichen Hinterzimmer in den verwinkelten Gassen Londons, wo die Schlapphüte der Vergangenheit in Whisky- und Rauchschwaden ihren undurchsichtigen Tätigkeiten nachgingen. Alles ist auf scheinbare Effizienz getrimmt.
Begegnung mit alten Bekannten
Autor John le Carré lässt seine bekannten Figuren in der Gegenwart Rückschau auf die Geschehnisse in den 1950er- und 1960er-Jahre halten. «Das Vermächtnis der Spione» ist eine Fortsetzungsgeschichte des berühmten Thrillers «Der Spion, der aus der Kälte kam» von 1963, der mit dem Tod der zwei Geheimdienstler durch Schüsse der DDR-Volkspolizei endete und le Carrés Ruhm als Meistererzähler begründete. Diese alte Geschichte holt nun Guillam & Co., ein, und der Leser begegnet wieder den bekannten Figuren wie George Smiley oder Jim Prideaux.
Eine Art fiktionale Geschichtslektion
In jener Zeit standen sich der sowjetische Osten und der Westen spinnefeind gegenüber – mitunter waren sie knapp vor einer bewaffneten Auseinandersetzung. Wie le Carré in seinen mehr als zwei Dutzend Romanen immer wieder konstatierte, machten die beiden Blöcke allerdings klandestin vielerorts gemeinsame Sache. Frei nach der Devise: Was der Machterhaltung der politischen Klasse dient, das ist richtig, auch wenn es auf Kosten der eigenen Bürger geht. Das erscheint dem heutigen Leser alles zeitlich so weit entfernt, wie es tatsächlich ist. Dennoch ist dieser neue Roman ein Leservergnügen, für Jugendliche zudem eine Art fiktionale Geschichtslektion. John le Carré selbst war eine Weile geheimdienstlich tätig. Er spionierte in den 50er-Jahren linke Gruppierungen an der Oxford University aus und verhörte Flüchtlinge, die sich aus dem Ostblock in den Westen absetzten.
Wenig überraschend stehen Guillams Sterne heute schlecht, wie sich bei den Vernehmungen herausstellt: Die Kinder der beiden im Kalten Krieg umgekommenen MI6-Agenten, Alec Leamas und Liz Gold, verlangen nämlich von Guillam und dem britischen Geheimdienst finanzielle Kompensation. Die Nachgeborenen sind der Überzeugung, ihre Eltern seien in jener missratenen Operation, die Smiley solange beschäftigte, Kanonenfutter an der Berliner Mauer gewesen.
Spiegel der Stimmung von damals
Der Publizist Andrew Marr stellt die Geschichte in der «Times» in einen historischen Zusammenhang: «Jeder, der sich mit dem Niedergang Grossbritanniens in der Nachkriegszeit und seinem dekadenten Establishment beschäftigt, muss diesen Roman ernst nehmen.» «Das Vermächtnis der Spione» erinnert Marr an die politischen Verwerfungen des bis heute in den Köpfen präsenten Spionage-Skandals rund um die Cambridge-Absolventen Kim Philby und Anthony Burgess, die sich in den 60er-Jahren Zugang in die wichtigsten Sicherheitskreise verschafften, um die Sowjets während Jahren mit geheimem Material zu versorgen. Zwar hat die Handlung in le Carrés Buch mit den damaligen Ereignissen kaum etwas zu tun. Aber der Roman erinnert in seiner Stimmung just an diese Zeiten, als die etablierte Ordnung nach und nach von einem moralischen Zerfall bedroht schien, der geradezu nach einer Erneuerung rief.
Der alternde Meisterspion George Smiley geht noch mehr in sich als Guillam. Er konstatiert quälerisch: «Diese Operation verfolgt mich ein Leben lang.» Der Brite hat sich inkognito nach Basel verkrochen, um dem britischen Geheimdienst keine Rechenschaft über seine früheren Aktivitäten ablegen zu müssen. Sein ehemaliger Untergebener Peter Guillam hat ihn in der fiktiven «Bibliothek des Kollegengebäudes Nummer 3» aufgegabelt.
Buch
John le Carré
«Das Vermächtnis der Spione»
320 Seiten
(Ullstein 2017).