Der verstorbene Schuldirektor ist nicht ganz tot. Er erscheint den Menschen gerne als Geist in seinen Windeln, die er im inkontinenten Alter trug. Diese metaphysische Begegnung ertragen indes nicht alle gleichermassen gut. Zwei ältere Damen erschrecken buchstäblich zu Tode: «Sie klammerten sich aneinander, die Augen weit aufgerissen.» Die Trauer des Ich-Erzählers Adam Brewster hält sich allerdings in Grenzen. Denn die zwei ZuTode-Erschrockenen waren seine Tanten, von ihm auch Hyänen genannt.
Der Schriftsteller plädiert für Toleranz
Das ist der skurrile Humor des 80-jährigen US-Schriftstellers John Irving. Sein mitunter ungewöhnlicher Witz durchzieht auch seinen 15. Roman «Der letzte Sessellift». Irvings Werke sind dicke Brocken, und mit «Garp und wie er die Welt sah» oder «Gottes Werk und Teufels Beitrag» brachte er es zu Weltruhm. Eines seiner Grundmuster ist die Entwicklungsgeschichte eines Helden, der die Welt in unterschiedlichen Lebensphasen eigenwillig interpretiert.
So ergeht es auch dem Protagonisten Adam Brewster in Irvings neuem Bildungsroman, der vom Zweiten Weltkrieg bis in die Trump-Ära reicht. Eine eigentliche Handlung im Sinn eines roten Fadens fehlt, der Roman setzt sich vielmehr wie eine Collage aus schier unzähligen Episoden zusammen.
Hintergrund ist das Skifahrermilieu von Aspen in den Rocky Mountains sowie die Kleinstadt Exeter im nordöstlichen Gliedstaat New Hampshire, John Irvings Heimat. Adam, dem Namen nach der biblische Prototyp eines Mannes, ist kleinwüchsig und feinfühlig, aber stark wie ein Ringer. Seine lesbische Mutter Ray verrät ihrem Sohn den Namen seines Vaters nicht.
Sie erzieht ihn dafür in ungewöhnlichen Familienverhältnissen: mit ihrer Lebenspartnerin Molly, dem schwulen Ehemann und den Hyänen-Tanten. Der Autor plädiert für weitreichende geschlechtliche Toleranz: «Wird man sexuelle Abweichungen und Minderheiten irgendwann akzeptieren?», resümiert Irving.
Wie gewohnt finden sich auch in diesem Roman zahlreiche typische Irving-Szenen. Etwa wenn die lesbische Ray den schwulen Elliott heiratet, der sich in der Schweiz zu einer Frau umoperieren lässt. Oder wenn der senile Schuldirektor die Feierlichkeiten immer wieder mit seinen Windelauftritten stört, die der Würde des Anlasses ebenso schaden wie die unüberhörbaren Lustschreie während eines Liebesakts: «Meine Grossmutter hielt sich beide Ohren zu.»
Moby Dick, Tarzan und Old Shatterhand
Iriving setzt auch in diesem Roman laufend auf literarische Anspielungen. So ist Herman Melvilles «Moby Dick» wiederholt ein Thema. Auch die Filmwelt kommt zu Ehren, mit zahlreichen Hollywood-Protagonisten wie dem Schauspieler Lex Barker, der als Tarzan und Old Shatterhand berühmt wurde und in Irvings Heimatstadt Exeter die Filmschule besucht hatte. All das ist ziemlich viel in einem Roman, dessen Lektüre mitunter ermüdet. Trotzdem werden Irving-Anhänger auf ihre Rechnung kommen, denn «Der letzte Sessellift» ist eine literarische Comedyshow.
Buch
John Irving - Der letzte Sessellift
Aus dem US-amer. von Anna-Nina Kroll, Peter Torberg 1088 Seiten (Diogenes 2023)