Die 1977 gestartete US-Sonde Voyager 1 ist inzwischen ausserhalb unseres Sonnensystems, 24 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt. Ihr nächstes Ziel ist der Rote Zwerg Gliese, den sie in etwa 40 000 Jahren erreichen wird. An Bord befindet sich die berühmte Datenplatte «Voyager Golden Record» mit 27 Musikstücken, darunter Aufnahmen von Bach, Beethoven, Mozart und Strawinsky, aber auch der Initiationsgesang eines Pygmäenmädchens, Gamelanmusik aus Java und Volksmusik aus allen Erdteilen.
Die Platte wurde aussen an der Sonde befestigt in der Hoffnung, dass die klingenden Botschaften dereinst von etwaigen intelligenten ausserirdischen Lebensformen aufgespürt und decodiert werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass es so kommt, ist allerdings äusserst gering. Sehr realistisch dagegen, doch nicht weniger geheimnisvoll und zudem ganz ohne Raketenschub, ist ein Projekt, das ich aus Anlass des 100-jährigen Bestehens der Suisa vorge - schlagen habe.
Die Suisa ist eine Genossenschaft, die das Nutzungsrecht von Schweizer Musikwerken vertritt. Die Idee ist ganz einfach, ihre Wirkung dagegen kaum zu erfassen. Musikerinnen und Musiker aus der ganzen Schweiz werden damit beauftragt, eine Musik zu komponieren, die in 100 Jahren das erste Mal gespielt wird. Es wäre zugleich das Jubiläumsgeschenk zum 200. Geburtstag der Genossenschaft, falls es sie dann überhaupt noch gibt. Nach anfänglichem Zögern war die Suisa bereit, sich auf das Unternehmen einzulassen.
Zusammen mit einem Kuratorenteam haben wir schliesslich 40 Musikerinnen und Musiker eingeladen aus den Bereichen Pop, Jazz, Klassik, Neue Musik, Alte Musik, Volksmusik und experimentelle Formen des Musikmachens. Der Auftrag lautete, eine Idee, ein Konzept, eine Handlungsanweisung oder Partitur einzureichen; Aufführung garantiert posthum, in 100 Jahren. «What a crazy idea!», war die spontane Reaktion aus der Musikszene.
Bei näherer Betrachtung wurde vielen schnell klar, dass die Aufgabe viel mehr umfasst als eine etwas verrückte Idee. Der Gedanke an die Zeitspanne von 100 Jahren ist zwar nicht ganz so krass wie der Gedanke an das Leben in fremden Galaxien in 40000 Jahren, aber schon das Nachdenken über die Welt im Jahr 2123 endet meist in reiner Spekulation. Dass unsere Urenkel und deren Kinder keine Musik mehr hören werden, scheint dennoch irgendwie ausgeschlossen.
Um eine zukünftige Hörerschaft zu erreichen, ist es allerdings notwendig, den heutigen Zeitgeist möglichst weit hinter sich zu lassen. Denn was heute begeistert, wird künftige Menschen kaum berühren. Die Verantwortlichen für die «Voyager Golden Record» gingen davon aus, dass Bach auch im extraterrestrischen Raum gerne gehört wird. Ob er in 100 Jahren auf der Erde so geschätzt wird wie heute, ist dennoch keinesfalls sicher. Abgesehen von den grossen Meistern hat die meiste Musik, die wir heute hören, nur eine kurze Halbwertszeit ihrer Verwertung.
Der Mythos des «Meisterwerkes» wird in der Neuen Musik zwar immer noch gepflegt, obwohl fast alle Kompositionen ihre Uraufführung nicht überleben. Immerhin konnte das berühmte Festival für zeitgenössische Musik in Donaueschingen 2021 seinen 100. Geburtstag feiern. Der norwegische Komponist Trond Reinholdtsen attestierte der Musik allerdings ihre künftige musikhistorische Einordnung mit der Bezeichnung «Spätstil». Alles Neue wird irgendwann als solches obsolet.
Elektronische Musik klingt modern, wächst aber immer nur entlang der neusten technischen Entwicklungen. Science-Fiction projiziert grenzenlose Fantasien einer erfundenen Zukunft ins Jetzt, für ein Publikum von heute. Will man zukünftige Menschen erreichen, sind ganz andere Strategien der Komposition erforderlich. Das Suisa-Projekt «Zukunftsmusikéchos du futurutopie sonore» kann ohne solche Überlegungen nicht gelingen. Wenn Autor und Zuhörer sich nie begegnen, entsteht eine unauflösbare Diskrepanz.
Gerade darin liegt ja der eigentliche Reiz und das Geheimnisvolle dieser terrestrischen Mission. Viele der von uns eingeladenen Musikerinnen und Musiker haben das erkannt und arbeiten mit der menschlichen Stimme, dem einzigen Instrument, von dem man sicher sein kann, dass es auch in 100 Jahren unverändert existieren wird. Eine Anweisung zur Improvisation gibt die Möglichkeit, sich so auszudrücken, wie es einem vertraut ist. Das funktioniert auch mit instrumentaler Musik.
Handgemachte Musik, glauben einige der teilnehmenden Komponisten, wird es wohl immer geben. Was bei den 40 Eingaben vollkommen fehlt, sind elektronische Klänge. Zu Recht, denn mit unseren heutigen Computern zu arbeiten, wäre in 100 Jahren wohl eine Zumutung, falls es die Geräte dann überhaupt noch gibt. Vermutlich sicherer ist es, sich auf telepathische Übertragungswege zu verlassen, wenn man daran glaubt, oder das Gedächtnis von Pilzen in Anspruch zu nehmen.
Alternativ wird Musik in die DNA von Zellen eingeschrieben. Einige setzen einen kompositorischen Zeitstrahl und hoffen, dass generationenübergreifend 100 Jahre lang laufend an der Komposition weitergearbeitet wird. Ein anderes Konzept setzt gar auf die orale Überlieferung eines neuen Volksliedes. Wenn alles nach Plan läuft, wird im Jahr 2123 in Lugano in der Schweizerischen Nationalphonothek ein versiegelter Behälter mit einem mysteriösen Inhalt geöffnet.
Neugierige Menschen werden in den Händen halten, was 100 Jahre auf sie gewartet hat. Sie folgen den Handlungsanweisungen und bringen das zum Klingen, was sich Menschen einer anderen Zeit ausgedacht haben. Was sie dabei fühlen, wie alt oder wie frisch sich die Musik von damals für sie anfühlt, das werden wir freilich nie erfahren. Schade, dass wir nicht dabei sein können!
Zur Person
Der Ethnologe Johannes Rühl (*1954) leitete während zwölf Jahren das internationale Musikfestival Alpentöne in Altdorf und forschte an der Hochschule Luzern über Musik des Alpenraums. Er hat bereits mehrere Erinnerungsprojekte realisiert, etwa ein Holocaustdenkmal in Freiburg im Breisgau. In Rottweil und Bern lagern Hunderte privater Briefe, die erst in 100 Jahren ihren Adressaten ausgehändigt werden.
Rühl lebt seit über 15 Jahren in Loco im Onsernonetal im Tessin, wo er die Künstlerresidenz Casadirosa aufgebaut hat und leitet. Er ist Präsident der Eidgenössischen Jury für Musik.
Öffentliche Präsentation der 40 Projekte
Di, 16.4., 19.00 Yehudi Menuhin Forum Bern
Eintritt frei, nur mit Reservation über www.menuhinforum.ch