Vielleicht ist Ihnen das auch schon passiert. Sie gebrauchen auf Social Media ein Wort wie «Eigenverantwortung», warnen vor der Machtfülle des Staates und loben die Innovationskraft unabhängiger Einzelpersonen und Gruppen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Ihnen von linker Seite Huldigung des Neoliberalismus und Abwälzung struktureller Probleme auf die Schultern Einzelner vorgeworfen wird. Das ist symptomatisch für eine Zeit, in der Staatsskepsis und Eigenverantwortung schnell mit «rechts» assoziiert werden – früher wars mal andersherum.
Eigenverantwortung, Eigeninitiative, Staatsskepsis und Misstrauen gegenüber starken «Strukturen» sind keineswegs identisch mit libertärer Individualismus-Romantik oder schlimmstenfalls rechtem Sozialdarwinismus. Sie haben noch eine andere Wurzel, die sich in einer Zeit von wachsendem Autoritarismus und Totalitarismus auf rechter wie auch linker Seite, aber auch einmaligen technokapitalistischen Kontrollapparaten freizulegen lohnt: den Anarchismus.
Anarchismus bedeutet nicht Chaos, wie es oft abschätzig heisst. Er stellt im Gegenteil den Versuch dar, Ordnung ohne Herrschaft zu schaffen. So zumindest verstanden ihn Denkerinnen und Denker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, darunter Pierre-Joseph Proudhon, Pjotr Kropotkin und Emma Goldman. Einige liessen sich vom schweizerischen Mix aus Liberalismus, Föderalismus, Milizsystem, direkter Demokratie und Genossenschaftlichkeit inspirieren. 1872 wurde die antiautoritäre Internationale in Saint-Imier gegründet. Diesen Sommer feiert sie das 150-Jahre-Jubiläum.
Wie alle schönen Ideen zeigte auch der äusserst vielgestaltige Anarchismus im Übergang von der Theorie zur Praxis ein teils hässliches Gesicht. Doch Anarchismus auf Attentate zu reduzieren, ist, wie Liberalismus auf Marktradikalismus oder Sozialismus auf Stalinismus zu reduzieren. Die meisten Anarchisten waren und sind gegen Gewalt, organisieren sich selbst in Kollektiven, schaffen Nischen im System. Im Gegensatz zum Marxismus, der, wovor schon Anarchisten wie Bakunin warnten, in den Totalitarismus mündete, ist Anarchismus eine realpolitische Marginalie geblieben. Zuletzt flackerte er in der Occupy-Bewegung auf; wie schon im 19. Jahrhundert als Verbindung von liberaler Freiheit und sozialer Gleichheit. Diese Verbindung ist leider brüchig geworden.
Liberale Freiheit steht heute unter Verdacht. Sie muss als Sündenbock für alles Mögliche herhalten: soziale Ungleichheit, Klimawandel, Dekadenz, tiefe Impfquoten. Doch so einfach ist es nicht. Für mich war es ein Wendepunkt, als mir ausgerechnet der linksaktivistische Künstler Artur Zmijewski 2018 im Interview sagte: «Wir sollten aufhören, naiv über Demokratie zu debattieren. Worauf es wirklich ankommt, ist Freiheit. Die neuen Autoritären bekämpfen nicht die Demokratie. Sie bekämpfen die Freiheit.» Darüber hinaus leidet Freiheit unter manchen Eigendynamiken technischen Fortschritts, etwa in Form von Überwachung und angstbasierten Weltbildern im Allgemeinen.
Wer angesichts globaler Krisen, ob Corona oder Klima, in der marxistischen Tradition auf Staat, Partei, Autorität, Führung, Polizei, Zentralismus, Überwachung setzt, ruft Geister, die nicht wieder verschwinden. Besser wäre es, liberale und anarchistische Tugenden zu stärken: Selbstorganisation, Eigeninitiative, Eigenverantwortung, Föderalismus, Subsidiarität, Dezentralität, Graswurzelarbeit, Genossenschaftlichkeit, Individualität, Solidarität jenseits institutioneller Aufsicht. Es wäre fatal, all das, wie es sich derzeit abzeichnet, Rechten und Libertären zu überlassen. Je mehr Verantwortung und Aufgaben man abgibt, ob aus Bequemlichkeit oder Angst, desto mehr Kompetenzen verliert man im Lauf der Zeit. Man wird abhängig, braucht immer noch mehr Obrigkeit. Ein Teufelskreis.
Verantwortung nach oben zu delegieren, widerspricht auch dem optimistisch-trotzigen Lebensgefühl, das ich in meiner Jugend durch anarchistisch inspirierte Musik kennenlernte: Hardcorepunk, Straight Edge, bedingt auch Heavy Metal. Eigenverantwortung begegnete mir gerade nicht als rechter oder libertärer Fetisch, sondern als subkulturelles Motto «Do it yourself». Die Hardcoreband Better Than a Thousand etwa verspottete 1998 die müde Praxis des Verantwortung-Abschiebens: «Schiebs auf dein Land, schiebs auf deine Stadt / Schiebs auf deine Nachbarschaft, du willst sie niederbrennen / Schiebs auf deine Kultur, schiebs auf deine Gene / Schiebs auf New York, L.A. und alles, was dazwischenliegt / [...] Ich habe diese Ausreden satt, genug davon! / Es ist an der Zeit, aufzustehen und Verantwortung zu übernehmen.»
«Rede nicht drüber – tu es, tu es, tu es, tu es!» schrie Henry Rollins 1987 ins Mikrofon. An diesen Song muss ich denken, wenn sich vielfliegende Wohlstandsbürger heute mit Fridays for Future solidarisieren und aus ihren schönen Altbauwohnungen Appelle an «die Politik» richten. Wer selbst ein besseres Beispiel abgeben kann, sollte das auch tun – bevor er es von anderen verlangt. Man nennt das «präfigurative Politik» (jaja, ich weiss: «Practice what you preach!» Also gut: Ich bin auch als Liberaler, ganz ohne Weisung aus dem Politbüro, multipler Genossenschafter, habe Solarzellen auf dem Dach, Regenwasserspeicher im Keller, ein Konto bei einer Ökobank und mein Auto – schweren Herzens! – vor Jahren zugunsten der Kombi Bahn/Mobility aufgegeben).
Wenn auch die eigene Initiative nicht alles ist, so ist doch ohne sie alles nichts. Ein aktuelles Beispiel bietet der Skandal um den Einzug der Bührle-Sammlung ins Kunsthaus Zürich. Mit Erich Keller war es ein, so munkelt man, des Anarchismus durchaus kundiger freier Historiker, der die Debatte ins Rollen brachte. Nicht die Bildungsinstitutionen. Nicht die rot-grüne Politik. Es braucht den Eigensinn Einzelner und kleiner Gruppen. Den utopischen Vorschein einer gerechteren Welt selbst zu verkörpern – diese Tugend, die Liberalismus und Anarchismus verbindet, ist an der Zeit.
Jörg Scheller
Jörg Scheller, 1979 in Stuttgart geboren, hat Kunstwissenschaft, Philosophie, Medienkunst und Anglistik studiert und mit einer geisteswissenschaftlichen Studie über Arnold Schwarzenegger promoviert. Seit 2012 lehrt er u.a. an der Zürcher Hochschule der Künste. Seine Essays, politischen Analysen und Rezensionen erscheinen in «Die Zeit», der NZZ u.a. Zudem ist er als Kurator tätig, 2013 etwa gestaltete er auf der 55. Biennale von Venedig den «Salon Suisse». Als Musiker ist Jörg Scheller seit 1999 an experimentellen Projekten beteiligt, zum Beispiel am Heavy-Metal-Lieferservice des Duos Malmzeit.