Dass Krafttraining nicht plump und Philosophie nicht sitzend stattfinden muss, zeigt Jörg Scheller. Der umtriebige Kunsthistoriker promovierte zu Arnold Schwarzenegger. Am Zürcher Philosophie Festival lädt er zum «Hirnen mit Hanteln». Der kulturtipp traf ihn auf einen Kaffee in Biel, wo er mit seiner Frau lebt. In der sportlichen Philosophiestunde will Scheller zwischen den Trainingseinheiten reflektieren. «Durch die historische Brille kann man sein Training in einem anderen, auch absurden Licht sehen», erklärt er.
Über Sozialkonstruktivismus lasse sich beim Gewichte stemmen ebenfalls hervorragend nachdenken. «Was ist biologisch vorgegeben, was sozial konstruiert? Anstatt Kulturkämpfe zu führen, kann man die körperlichen Grenzen und ihre soziale Erweiterung selbst testen.» Für die Teilnahme seien weder philosophische noch sportliche Kenntnisse nötig.
Bodybuilder als Vertreter der Avantgarde
Scheller bewegt sich als Fitnesstrainer, Metal-Sänger, Autor und Dozent für Kunstgeschichte zwischen vielen Welten. Mal spannen seine Oberarme ein Metal-Shirt – mal ein weisses Hemd. Bei seinen Studentinnen und Studenten an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) fällt er durch unkonventionelle Beispiele auf.
So sind Bodybuilder für ihn Vertreter der Avantgarde: «Sie sehen sich als Teil des Kunstwerks und entsprechen nicht dem Salon-Geschmack.»
Scheller selbst mag kraftvolle, extreme Popkultur. Er leiht seine tiefe Stimme der Metal-Band Malmzeit und ist Fan der Rapperin Nicki Minaj, welche die Rap-Ästhetik mit Barbie-Feminismus verbindet. In Polen, Armenien und Moldau forscht Scheller zu Projekten, die mit Kunst und Popkultur Friedensförderung betreiben. «Wenn du in die Breite gehen willst, kommst du nicht am Populären vorbei, und für nachhaltige Befriedung musst du in die Breite gehen.» Scheller schreibt für die NZZ, «Die Zeit», «Psychologie heute» und auf X (vormals Twitter).
Dort äussert er sich kritisch zuRechtspopulismus, aber auch zu Diversitätsquoten und der «woken Bubble».Schnelles einsortieren von Menschen in Kategorien mag er nicht, das gehe auf Kosten von Genauigkeit und Imagination. «Eigentlich bin ich der wokeste von allen, weil ich in meinem Milieu auf blinde Flecken hinweise», sagt er und lacht. «Nur schon aus Gründen der Diversität braucht mich der Kunstbetrieb.» Er habe grundsätzlich ein ironisches Verhältnis zu den Dingen, sagt Scheller, in dessen Texten oft Humor mitschwingt.
So versteht er auch seine Rolle in der Philosophie. «Der Elfenbeinturm ist wichtig und spannend. Aber ich sehe mich als Boten, der die Theorien mit dem Alltag verknüpft.» Auch ein alltägliches Fitnesszentrum müsse «Geist» haben und inhabergeführt sein. «Zudem braucht es in der Mitte eine Palme. Ich habe aber noch nicht herausgefunden, warum.»
Hirnen mit Hanteln
Am Zürcher Philosophie Festival
Sa, 27.1, 14.30 Kraftmühle Zürich
www.philosophiefestival.ch
Jörg Schellers Kulturtipps
Musik
Necromorph: World’s Disgrace
(FDA Records 2023)
«Das grossartige neue Album der deutschen Grindcore-Band beginnt mit dem Song ‹Nichts›: ‹Keine Träume, keine Aussicht, keine Transparenz.› Genau das braucht unsere Zeit – mehr Mut zu nichts!»
Buch
Wolfgang Templin: Revolutionär und Staatsgründer – Józef Piłsudski (Ch. Links 2022)
«In der Biografie des ersten Staatschefs der zweiten polnischen Republik (1918–1939) taucht man in die so turbulente wie tragische, vielen Westeuropäern noch immer unbekannte Geschichte Polens ein.»
Social Media
Influencerin Lea Schreiner
«Seit einigen Jahren mischt eine Generation junger Frauen den Kraftsport auf – eine dieser Frauen ist die humorvolle und boden-ständige Powerlifterin Lea Schreiner. Es lohnt sich, ihr auf Youtube & Co. zu folgen.»