Svartfugl, übersetzt Schwarzvogel, ist der isländische Name für die Familie der Alkenvögel. Zu ihr gehört die wunderschöne Trottellumme. Sie brütet ihr Ei an der Steilküste Islands auf kleinen Felssimsen, ohne vorher ein schützendes Nest gebaut zu haben. Ziemlich riskant, aber die Natur hat an alles gedacht. Das gesprenkelte Ei ist nämlich ausgesprochen kreisförmig, und das geschlüpfte Küken scheut das Licht, wendet sich also instinktiv vom hellen Horizont ab und dem schattigen Felsen zu. Deshalb fällt es nicht von der Klippe. Auch die Elternvögel legen dieses Verhalten an den Tag, brüten und hudern mit dem Rücken zum Abgrund. Diese Verhaltensweise nennt sich «negative Phototaxis».
Manchmal frage ich mich, ob man auch mir diese seltsame Eigenschaft zuschreiben könnte. Bin ich nach Island ausgewandert, weil mir die dunklen Winter behagen? Wie die meisten Autoren und Journalisten richte ich mein Augenmerk auf das im Dunkeln liegende, die Schattenseite. Nachts liege ich wach im Bett, hinterfrage meine Beweggründe, meinen Pessimismus, meinen Hang zum Dramatischen. Wie so viele Kunstschaffende werde auch ich von Selbstzweifeln geplagt. Mir sitzt die Angst im Nacken, dass ich etwas Falsches oder Beleidigendes geschrieben haben könnte.
Ganz viel Leute beleidigt und enttäuscht hat der grossartige isländische Autor Gunnar Gunnarsson (1889-1975). Während sich seinerzeit viele Kunstschaffende kritisch über den Aufstieg der Faschisten äusserten, war Gunnarsson ein regelmässiger Gast in Deutschland. 1936 akzeptierte er den Ehrendoktor der Universität Heidelberg, obschon damit begonnen worden war, jüdische Professoren aus den Universitäten zu werfen. Sogar 1940 machte er eine ausgedehnte Lesereise durch Deutschland und las, flankiert von Hakenkreuzbannern, aus seinen Büchern. Er liess sich mit Nazi-Schwergewichten fotografieren und traf sogar Hitler höchstselbst. Offiziell mag Gunnarsson zwar kein Nazi gewesen sein, aber er war Mitglied der «Nordischen Gesellschaft», die 1933 der NSDAP unterstellt worden war; eine Propaganda-Plattform.
Damit nicht genug. Nach über 30 Jahren in Dänemark zog Gunnarsson zurück in seine alte Heimat, kaufte in einem abgelegenen Tal in Ostisland den Bauernhof Skriduklaustur und liess ein herrschaftliches Haus bauen. Die Pläne entwarf sein Freund Fritz Höger, ein deutscher Architekt und Nazi. Am 6. Mai 1945 soll sich ein amerikanischer Soldat in Begleitung eines Dolmetschers vergewissert haben, ob Gunnarsson Hitler in Skriduklaustur versteckt hielt. Die Hausdurchsuchung war absurd, aber dennoch nicht ganz abwegig.
Die Fakten liegen also auf dem Tisch. Indes macht man in Island kein Drama um Gunnarssons Vergangenheit und versucht, wann immer möglich, nicht darüber zu reden. Man lässt die Frage, ob er ein eifriger Nazi-Sympathisant oder lediglich ein eitler Opportunist gewesen war, ein naiver Mitläufer möglicherweise, einfach unbeantwortet. Vielleicht war es den Nationalsozialisten gelungen, dem naiven Bauernsohn dermassen viel Honig ums Maul zu schmieren, dass ihn seine Urteilskraft im Stich liess. Möglicherweise befand sich der Ausgewanderte auf einem Selbstfindungstrip, entwurzelt und nach Anerkennung lechzend – und war dabei auf Abwege geraten. Schliesslich befand sich zu der Zeit die gesamte isländische Inselnation auf einem Selbstfindungstrip. Ihr langer Kampf um Unabhängigkeit von Dänemark befand sich im Endstadium. Die Isländer mussten sich als unabhängiges Volk beweisen.
Ob Mitläufer oder brennender Nazi: Gunnar Gunnarssons Vergangenheit ist zutiefst frustrierend. Wie sehr ich mir wünschte, dass er seine eloquente Stimme gegen die Machenschaften der Faschisten erhoben hätte! Abgesehen von unserer politischen Gesinnung und dem Umstand, dass er tot ist, haben wir nämlich so einiges gemein. Beide sind wir als Bauernsöhne in abgelegenen Tälern aufgewachsen, haben früh begonnen, Geschichten zu veröffentlichen, ohne jemals eine Universität besucht zu haben. Beide sind wir in jungen Jahren ausgewandert und haben Bücher über Island geschrieben, die auf der Vulkaninsel vorerst auf kein Interesse stiessen. Dass sich Gunnar Gunnarsson die Anerkennung eben von anderswo holte, ist nachvollziehbar.
Seine Bücher inspirieren und berühren mich zutiefst. In «Schiffe am Himmel» beschreibt er das Leben auf einem isländischen Bauernhof um 1900 aus der Sicht eines kleinen Buben. Die Wintererzählung «Advent im Hochgebirge» lese ich regelmässig. Düster geht es in «Schwarze Vögel» zu und her. Die Geschichte basiert auf einem wahren Kriminalfall und heisst im Originaltitel «Svartfugl». Der Roman gilt als der erste Island-Krimi überhaupt. Darin sieht sich ein junger Kaplan mit einer schrecklichen Familientragödie konfrontiert. Negative Phototaxis auch hier.
Wegen seiner Zuneigung zu den Faschisten, wenn ich mir diese Behauptung erlauben darf, verpuffte die Chance auf den Literaturnobelpreis. Die Nobelstiftung liess sich vermutlich von seiner Vergangenheit abschrecken; es blieb bei acht Nominationen. In meiner Vorstellung kämpfte sich Gunnarsson in seinem Bett in Skriduklaustur durch so manch schlaflose Nacht. Dass er seinen Hof schon 1948 wieder verliess, könnte ein Indiz dafür sein. Er vermachte ihn dem isländischen Staat, mit der Auflage, ein Zentrum für Kultur und Landwirtschaft zu schaffen. Heute wird in Skriduklaustur nach wie vor Kultur zelebriert, aber auch Geschichte und Kulinarik; allemal einen Besuch wert. Über Gunnarssons Beziehung zu den Nationalsozialisten erfährt man in den Räumlichkeiten des prächtigen Steinhauses aber nichts. Positive Phototaxis.
Joachim B. Schmidt
Joachim B. Schmidt (*1981) ist als Bauernsohn am Heinzenberg in Graubünden aufgewachsen. Heute lebt und schreibt er in Reykjavik, Island. Vor einem Jahr erschien sein vierter Roman «Kalmann» (Diogenes), der auf SRF 2 Kultur auch als Hörspiel gesendet wird (Sa, 31.7., 20.00).