Soeben hat Joachim Schmidt seinen Sohn mit dem Velo in den Kindergarten gebracht und ist auf dem Rückweg komplett verregnet worden. Nun sitzt er wieder trocken in seiner Küche in Reykjavik und schwärmt beim Videotelefon-Interview von der isländischen Landschaft, der Weite, die Platz lässt zum Atmen und Denken: «Eine solche Stimmung wie heute – mit riesigem Regenbogen und Wolkengebilde über dem Meer –, das haut mich jeden Tag von Neuem aus den Socken.» Seit 13 Jahren lebt der Bündner in Island, hat hier eine Familie gegründet und fühlt sich pudelwohl unter den geselligen Isländern.
In Island spielen auch seine vier Romane. Kürzlich ist «Kalmann» erschienen, den er erstmals beim Diogenes Verlag unterbringen konnte. «Ein grosser Glücksfall», wie er sagt. Denn seit Beginn der Corona-Zeit lebt er ganz vom Schreiben. Vorher hat er als Reiseleiter Touristen über die Vulkaninsel geführt, nun ist dieses zweite Standbein weggefallen. «Wir haben zugemacht», sagt er. «Weil alle vor der Einreise in Quarantäne müssen, gibt es fast keine Touristen mehr, die Hotels sind leer, die Unternehmen teilweise bankrott, dafür sind die Fallzahlen sehr tief.»
Der neue Roman ist ein herzerwärmendes Gegenstück in solch rauen Zeiten. Im Mittelpunkt steht Kalmann, ein junger Mann aus dem isländischen Kaff Raufarhöfn, der etwas zu langsam ist für diese Welt und sich dennoch tapfer durchschlägt, auch als er unvermutet in einen Krimifall verwickelt wird … Kalmann ist Experte für die Herstellung von Gammelhai, einer isländischen Spezialität mit gewöhnungsbedürftig fauligem Geruch. «Diese Delikatesse wird einem auf dem Land schnell mal aufgetischt», lacht der Schriftsteller. «Man muss sie einfach mit etwas Starkem runterspülen!» Seine Hauptfigur ist ihm beim Schreiben regelrecht zugeflogen. Anfangs wollte er einen Kurzkrimi schreiben und hat dann gemerkt, dass die Figur des liebenswürdigen «Dorftrottels mit Cowboyhut und Sheriffstern» viel spannender ist als die Kommissarin. Er sagt aber auch: «Kalmann hat mehr von mir selbst, als man vielleicht denkt. Diese Unsicherheiten, die Verschlossenheit, das kenne ich selbst.»
Schmidt ist im Bündner Dorf Cazis in einer Bauernfamilie mit vier Geschwistern aufgewachsen. Als Jüngster hatte er eine gewisse Narrenfreiheit. «Die anderen hatten schon ‹richtige› Berufe, so konnte ich mich etwas ‹Ausgeflippterem› wie dem Schreiben widmen», schmunzelt er. Sein erster Besuch im mystischen Island hat ihn dann endgültig zum Geschichten Erzählen inspiriert.Babina Cathomen
Lesungen
Sa, 26.9., 17.30 & 20.00 Buachlada Kunfermann Thusis GR
Di, 29.9., 20.00 Orell Füssli Bellevue Zürich
Mi, 30.9., 20.00 Orell Füssli im Loeb Bern
Lesetour: www.joachimschmidt.ch
Buch
Joachim B. Schmidt
Kalmann
352 Seiten
(Diogenes 2020)
Buchverlosung siehe Seite 4
Joachim B. Schmidts Kulturtipps
Buch
Gunnar Gunnarsson: Schwarze Vögel (Reclam 2009, Erstausgabe: 1929)
«Ein grossartiger isländischer Autor. Der vielleicht erste
Islandkrimi überhaupt. Tragisch, schauderhaft, unübertroffen.»
CD
Hildur Guðnadóttir: «Joker»-Soundtrack (Watertower Music 2019)
«Die cellolastigen, mal blei-schweren, mal verträumten Kompositionen der Isländerin Hildur Guðnadóttir wären eigentlich der perfekte Soundtrack für ‹Schwarze Vögel›.»
Film
Charlie Kaufman: I’m
Thinking of Ending Things (2020)
«Dieser Film hat mich tagelang begleitet. Ein anspruchsvolles, ergreifendes Werk für Tagträumer wie mich. Auf Netflix zu sehen.»