Das Leben einer jungen Zürcher Magd im Jahr 1869 ist peinvoll. Elsie mit den «blitzblauen Augen» und den «rötschigen Backen» ist zwar mit einer Singstimme gesegnet, die alle zum Träumen bringt, aber ihr Talent verkümmert beim Boden Bohnern im Herrschaftshaus des Fabrikdirektors. Zur Strafe fürs unerlaubte Singen gibts «Chopfnüss». Als sie sich mit dem Herrschaftstöchterlein Sophie anfreundet und mit ihr musizieren darf, wendet sich das Blatt: Doch der Traum eines Studiums an der Musikakademie in Florenz zerplatzt. Elsie wird vom übergriffigen Fabrikdirektor schwanger. Dieser streitet alles ab, gibt die schwangere Magd dem Rossknecht Jakob zur Frau und verfrachtet sie ins Dorf Finstersee, wo sie ein schäbiges Haus zur Pacht erhalten. Vom entbehrungsreichen Alltag flüchten beide in ihre eigenen, unvereinbaren Träume: Elsie fantasiert von einer Musikkarriere, Jakob vom Standesaufstieg durch ein eigenes Pferd. Als Elsie einen heissblütigen Fahrenden kennenlernt, nimmt das Unglück seinen Lauf …
Silvia Tschui erzählt in rasantem Tempo die berührende, aber nie sentimentale Geschichte einer jungen Frau, die sich ihr persönliches Glück trotz patriarchaler Strukturen und Standesunterschieden erkämpfen will. Die Autorin bedient sich märchenhaft-fantastischer Elemente und einer dialektalen Kunstsprache.
kulturtipp: Frau Tschui, wie stehen Sie zu Jeremias Gotthelf?
Silvia Tschui: Puh, der verfolgt mich … In meinem ersten Interview habe ich auf die Frage nach Gotthelf höflich genickt. Seither scheint er als Vergleich gesetzt zu sein. Aber eigentlich ist «Jakobs Ross» keine gotthelfsche Geschichte. Der Roman ist bloss in dieser Zeit verortet und beinhaltet Mundart-Ausdrücke. Vom Symbol-Gehalt her ist er mehr in der Romantik angesiedelt: Ich sehe Parallelen zu «Schlafes Bruder», zum lateinamerikanischen magischen Realismus oder zur englischen Neo-Romantik.
Der Gegenpol zu Gotthelf, mit dem Ihr Buch verglichen wird, ist Filmemacher Tarantino mit seinem Faible für Gewaltszenen. Können Sie diesem Vergleich mehr abgewinnen?
Eher, aber es stimmt für mich insofern nicht, als alle immer auf die Gewaltszenen im Buch fokussieren. Mein Buch hat nebst der tragischen Geschichte viel Humor, Poesie und Leichtigkeit – das geht meist vergessen.
Die Mischsprache zwischen Hochdeutsch und Schweizerdeutsch erlebt einen Boom in der Literatur. Warum sind Sie auch noch auf diesen Zug aufgesprungen?
Ich wollte das Buch auf Hochdeutsch schreiben, aber das ging nicht. Die Tonalität musste so sein, als ob ein ungebildetes Schweizer Mädchen ihre Geschichte erzählt. Ich wusste: Diese Sprache kennt man schon, und für den deutschen Buchmarkt ist es nicht von Vorteil.
Ihr Buch wurde für die Bühne adaptiert. Wie war es für Sie an der Premiere, als Ihre Figuren plötzlich lebendig wurden?
Schrecklich: Ich habe an der Premiere Blut und Wasser geschwitzt. Nicht, weil es nicht gepasst hätte. Ich wollte ja, dass andere Künstler etwas Eigenes daraus machen, und habe ihnen freie Hand gelassen. Aber die Bühnenadaption ist eine andere Realität meines Stoffes. Das Buch ist visuell opulent – man merkt, dass ich aus dem Animationsfilm-Bereich komme. Der Regisseur Peter Kastenmüller hat damit das einzig Richtige gemacht: Er hat das Visuelle reduziert und ist es minimalistisch angegangen. Am Anfang musste ich mich daran gewöhnen, aber dann hat es mich überzeugt. Stark finde ich die Stellen, an denen etwas völlig Neues entsteht, das ich als Autorin gar nie beabsichtigt hatte.
Wo kommen im Theater neue Dimensionen dazu, die in Ihrem Roman nicht angelegt waren?
Grossartig ist zum Beispiel Andreas Matti als Pferd. Das ist ein Comedy-Highlight. Diese Szene sah in meinem Kopf ganz anders aus. Inzwischen kann ich sie nicht mehr lesen, ohne dieses Bild im Kopf zu haben – und es gefällt mir besser.
Wo hätten Sie bei der Bühnenadaption keine Kompromisse gemacht?
Wichtig war mir, dass Jakob nicht als einfältiger «Tubel» und Brutalo dargestellt wird. Die Inszenierung sollte beide Seiten von ihm zeigen. Er hat ja auch etwas Weiches. Elsie ist ihm moralisch nicht überlegen. Sie sollte in der Inszenierung nicht die «verschupfte» Sympathieträgerin sein, die vom Grobian verprügelt wird.
Mit der Musik träumt sich Elsie in eine bessere Welt. Welche Bedeutung hat Musik für Sie?
Ich bin ohne Musik aufgewachsen. Das ist meine grösste Bildungslücke. Es hiess bei uns daheim: «Was, du willst Speuzchnebel spielen? Sicher nöd …» Ich singe wahnsinnig gerne, habe mir aber alles autodidaktisch beigebracht. Im täglichen Leben höre ich selten Musik: Es geht mir zu nahe, lenkt mich zu sehr ab. Es ist seltsam, was mit mir beim Singen passiert. Ich kann ungerührt die schlimmsten Stellen vorlesen – singe ich aber «Hurt» von Johnny Cash, stellen sich mir die Nackenhaare auf, und ich könnte losheulen. Es ist jedes Mal eine zwar künstlich evozierte, aber komplett wahrhafte Emotion. Zauberei halt.
Spielt in Ihrem neuen Buchprojekt die Musik eine Rolle?
Ja, auf eine gewisse Weise. Ein Gedanke darin ist, dass die Schriftkultur mit der Digitalisierung langsam an ihr Ende gelangt. Sie führt sich selbst ad absurdum, zur Verblödung der westlichen Gesellschaft. Die Informationen werden mehr, aber immer flacher. Wir haben das gesamte Weltwissen in unseren Smartphones und benützen sie, um niesende Pandabären anzusehen oder Pornografie. Im neuen Roman spielt die orale Tradition eine Rolle, auch in Verbindung mit ritualisierten Gesängen.
Das Multitalent
Silvia Tschui wurde 1974 in Zürich geboren. Sie hat einige Semester Germanistik studiert und 2003 ihren Bachelor in Grafikdesign und Animation in London gemacht. Vier Jahre lang hat sie dort als Animationsfilm-Regisseurin gearbeitet und wurde für den British Animation Award nominiert. In der Schweiz arbeitete sie als Grafikerin und Journalistin. 2011 hat sie ihr Studium am Institut für literarisches Schreiben in Biel abgeschlossen. Ihr Debütroman «Jakobs Ross» wurde Anfang 2015 im Zürcher Neumarkt Theater mit dem Musiker-Duo Kappeler/Zumthor für die Bühne adaptiert. Silvia Tschui hat einen dreijährigen Sohn und arbeitet zurzeit bei Ringier in Zürich.
Begegnungsort für Theaterinteressierte
Am 2. Schweizer Theatertreffen sind sieben Aufführungen aus allen Landesteilen zu sehen, die im letzten Jahr besonders aufgefallen sind. Neben «Jakobs Ross» (Uraufführung im Neumarkt Theater Zürich) sind im Programm «Bartleby, der Schreiber» (Schauspielhaus Zürich) und «Seymour oder ich bin nur aus Versehen hier» (Konzert Theater Bern). In Anwesenheit von Bundesrat Alain Berset werden die Schweizer Theaterpreise verliehen. Zudem findet ein Gespräch mit Lukas Bärfuss zum Thema «Theaterschaffen heute und in Zukunft» statt.
2. Schweizer Theatertreffen
Do, 28.5.–Sa, 6.6. www.schweizertheatertreffen.ch
Buch
Silvia Tschui
«Jakobs Ross»
208 Seiten
(Nagel & Kimche 2014).
Bühne
Jakobs Ross
Fr, 5.6., 19.30 Theater Winterthur