Fürchterlich, die Vorstellung. Im Zug nach Basel. Man konnte ja viel von ihr verlangen, aber das! Schaff ich nicht, dachte Frau Oppliger. Beim besten Willen. Drei Minuten zuvor, als sie losfahren wollte, hatte der Wagen keinen Wank gemacht. Anruf beim Garagisten: Herr Ravasio, mein Auto ist tot, ich brauche einen Ersatz, bitte! Aber der sonst so patente Herr Ravasio hatte heute keinen Ersatzwagen übrig. Er könne ihr Auto gerne im Laufe des Tages abholen, mehr liege grad nicht drin.
Die Besprechung liess sich keinesfalls absagen. Also Zug. Aber würde sie es überhaupt rechtzeitig schaffen? Wie häufig fuhren denn diese Züge? Ihre letzte Fahrt mit der Eisenbahn war mindestens 30 Jahre her. Die Erinnerungen daran dennoch glasklar: wild durcheinander redende Menschen, mit offenem Mund essende Menschen, apathisch in die Luft starrende Menschen. Und dann dieses tranige Bummeln. Sie hatte es gern speditiv, nicht umsonst nannten die Kollegen sie hinter vorgehaltener Hand Frau Hoppliger.
Ein bisschen betupft war sie schon gewesen, als sie das zum ersten Mal gehört hatte, andererseits passte es. Eine halbe Stunde später stieg sie in den Intercity und fand ein freies Abteil. Jetzt bloss keine komischen Menschen um mich herum, dachte sie. Schräg links setzte sich ein älteres Ehepaar hin. Sie spindeldürr, er grau wie eine Parkuhr. Die beiden wirkten, als hätten sie seit Jahrzehnten nicht mehr miteinander gesprochen. Frau Oppliger atmete auf.
Doch als der Zug sich in Bewegung setzte, fläzten sich eine Frau mit schreiend grüner Brille und ein junger Lümmel in ihr Abteil, bestimmt Grosi und Enkel. Frau Oppliger seufzte leise und schloss die Augen. Sie dachte an ihre Tochter. Fanatische Zugfahrerin, seit jeher. In Zügen findet das Leben statt, sagte Nina, hier finde ich meine besten Geschichten. Sie nannte sich seit Kurzem Schriftstellerin.
Schön und gut, dachte Frau Oppliger. Dennoch kein Grund, sein Leben schleifen zu lassen. Bei jedem von Ninas Anrufen der Gedanke, was man jetzt wieder auszubaden hatte. Und wie zerzaust sie immer herumlief. In ihrem Rücken Geplapper aus unsichtbarem Mund, im Lautsprecher eine Durchsage, auf dem Nebensitz Stille. Frau Oppliger öffnete die Augen. Der Teenager neben ihr glotzte in sein Handy. Natürlich, was sonst? Auf seinem Bildschirm eine Frau, die mit dem Hintern wackelte.
Wenn das Grosi das wüsste. Aber das Grosi öffnete in diesem Moment eine Tupperbox und sagte: «Willst ein Käsebrötchen, Noah?» Der Bengel, ohne aufzuschauen: «Nein danke, Grosi.» Und wischte den wackelnden Hintern weg. Schräg links zupfte die Dürre am Hemdkragen der lebenden Parkuhr, im Hintergrund noch immer das Geplapper. Beni, dachte Frau Oppliger. Nicht ganz, aber fast. Das Lispeln, die Melodie. Kleiner, lustiger Beni, immer bereit für die nächste Sause.
Ihre wilden Jahre, als sie mit ihm und den anderen durch die Nächte zog. Nächte ohne Ende, auf Schlaf konnte man verzichten. Lange hatte sie nicht an die Zeit gedacht. Christine, Flo, Maya, wie es denen wohl ging? Wo Beni sich herumtrieb? Das hier war er jedenfalls nicht. Dem hier misslang jeder Witz. Ach, je. Die Dürre fingerte erneut an ihrem Gatten herum. Diesmal war es die Frisur. Er liess es stumm über sich ergehen. Was für eine Tragikomödie, dachte Frau Oppliger. Nicht zum Hinschauen.
Andererseits musste sie doch immer wieder. Man konnte fast Mitleid haben mit ihm. Jetzt gab die Frau ihm ein Zeichen. Bestimmt ein Befehl. Schnauf nicht so laut! Halt die Füsse grad! Hätte es mit uns auch so geendet, wenn der Res mich nicht verlassen hätte?, dachte Frau Oppliger. Muss ich ihm dankbar sein, dem widerwärtigen Herzensbrecher? Ach, Gottchen. Das Grosi, mit vollem Mund: «Ich hab auch Nutellabrot.» Noah blickte zum ersten Mal auf und wischte mit dem Daumen ein Video weg, in dem ein Auto mit Karacho in ein Schaufenster fuhr.
Frau Oppliger unterdrückte mit Mühe ein Kichern. «Gesundheit», krähte das Grosi und strahlte sie an. Der perfekte Tante-Annemarie-Klon, dachte Frau Oppliger. Diese penetrante Fröhlichkeit. Die Weigerung, schlechte Laune zu akzeptieren. Man konnte sich endlos amüsieren mit ihr, wenn man sich dem hingab. O ja, mit ihr konnte man die Zeit vergessen. Ach, Annemariechen. Irgendwann Basel. Das Gedränge auf der Rolltreppe, die Halle mit dem gemalten Panorama, der Bahnhofplatz.
Ein Auto hupte, Frau Oppliger sprang zurück und machte eine entschuldigende Geste. Hui! Offenbar sass sie im Kopf drin noch immer in diesem Zug. Komisch, dass sie nicht wegkam davon. Als hätte sie eine Höhlenexpedition unternommen, eine Fahrt in die dunklen Grotten des Lebens. Wie man unter diesen Menschen abdriftete und in seltsamen Erinnerungen versank. Nicht unangenehmen Erinnerungen, dachte sie. Durchaus nicht. Erinnerungen, mit denen man nicht mehr gerechnet hätte.
War das alles wirklich Teil ihres eigenen Lebens? Am Aeschenplatz noch ein Hupen. Jaja, tschuldigung. Jetzt mal ruhig. Plötzlich ein junger Mann. Stand auf dem Trottoir und strahlte sie grundlos an. Was wollte denn der? Ach so, Stäuble, der Leiter der Basler Filiale. «Hoppla, Frau Oppliger, Sie sehen ganz schön zerzaust aus», rief er. «Zerzaust, aber fröhlich. Ist Ihnen was Lustiges über die Leber gekrochen? Egal, kommen Sie rein.»
Und Stäuble streckte den Arm aus, und Frau Oppliger nahm ihn an, zum ersten Mal seit vielen Jahren nahm sie einen angebotenen Arm an, lächelte, nahm Stäubles Duft wahr, liess sich hineingeleiten, und es war irgendwie nicht ganz wirklich. Aber auch nicht unangenehm. Durchaus nicht.
Zur Person
Jens Steiner wurde 1975 in Zürich geboren. Er hat Germanistik und Philosophie studiert und einige Jahre als Lehrer und Verlagslektor gearbeitet. Er war zweimal für den Deutschen Buchpreis nominiert und hat für seinen Roman «Carambole» den Schweizer Buchpreis erhalten. Kürzlich ist sein sechster Roman «Die Ränder der Welt» (Hoffmann und Campe) erschienen. Jens Steiner lebt als freier Autor und Journalist im Burgund.