Blätter, Geschichten und Fragmente aus dem Nachlass eines grossen Autors haben ihre Tücken. Oftmals beschleicht einen bei der Lektüre solcher Fundstücke der Gedanke, sie wären besser im Orkus des Vergessens geblieben. Wohin sie der Autor und sein Verleger wohl mit einigem Grund entsorgt hatten.
Nun aber bringt der kleine Zürcher Verlag Kein & Aber eine Trouvaille heraus. 14 frühe Kurzgeschichten von Truman Capote, sieben davon noch nie veröffentlicht, sieben zum ersten Mal auf Deutsch – wobei diese seit den Erstveröffentlichungen in der Schülerzeitung seiner High School vor mehr als 70 Jahren auch auf Englisch nie mehr publiziert worden waren.
Im Pappkarton
Die Journalistin Anuschka Roshani hat diese Texte in einem Pappkarton in der New York Public Library ausgegraben und mit einem klugen Nachwort versehen. Was sie fand, liest sich unglaublich: Jedes Wort am richtigen Platz, kein Adjektiv zu viel, kein Adverb am falschen Ort. Hier schrieb keiner, der sich und seinen Stil suchte, sondern einer, der ihn schon gefunden hatte. In den frühesten Texten evoziert Capotes knappe Sprache Bilder und Gefühle, die man einem Teenager, der Capote damals war, kaum zutrauen würde. Bekannt ist, dass Truman Capote schon als Junge Schriftsteller werden wollte. Dass er es so früh war, erstaunt trotzdem.
Klar und unaufgeregt
Die schwere Wärme der amerikanischen Südstaaten, die Langsamkeit des Lebens und die Gerüche der Sümpfe beschreibt kein anderer derart fühlbar. Und nur wenige erkennen die Nöte und Ängste der Menschen so klar, einfach und unaufgeregt. Dabei ist der junge Capote stets auf der Suche: nicht nach dem Schreibstil, sondern nach der Richtung, die seine Geschichten nehmen sollen. Kleine Pastichen, Beschreibungen und Betrachtungen, moralisches Denkstück oder leicht gruselige Schreckminiaturen – Capote versucht sich an allem. Erfolgreich.
Voller Lebensklugheit
Man träumt mit dem jungen Mädchen, das sich in «Wo die Welt anfängt» sein eigenes Universum schafft. Man fühlt mit bei der Sehnsucht eines Jungen nach einem Spielgefährten in «Das hier ist von Jamie». Man stolpert über die überraschende Moral von der Geschichte in «Verkehr nach Westen». Darin erleiden ein paar Leute ein gemeinsames Schicksal. Dabei haben sie scheinbar nichts miteinander zu tun, ausser dass sie sich auf ein neues und besseres Leben freuen. Und schliesslich erschauert man in «Seelenverwandte», einer unheimlich gruseligen Miniatur über das Liquidieren von Ehemännern.
Nach 130 Seiten Lektüre legt man das Buch zur Seite und fragt sich, wie ein knapp 20-Jähriger diese dichte Prosa hinbekommen hat. Woher er diese Lebensklugheit hatte. Und wo er diese kompositorische Stringenz gelernt hatte, die aus jeder kleinen Geschichte ein Juwel macht.
Buch
Truman Capote
«Wo die Welt anfängt»
(Kein & Aber 2015).
Erstmals auf Englisch erschienen: 1940/41 in der College-Schülerzeitung «The Green Witch» in Greenwich Connecticut.