kulturtipp: Seit Jahrzehnten spielen Sie in diversen Bands. Warum benötigen Sie für Ihr neues Projekt «Play!» ein Kartenspiel?
Lucas Niggli: Ich spüre schon lange das Bedürfnis, mit einem grösseren Ensemble komplexe Musik zu spielen und uns dabei eine grösstmögliche Freiheit zu lassen. Musik also mit rhythmischer, klanglicher und formaler Struktur, aber ohne fixe Partitur.
Dafür mit Spielkarten …
Genau. Denn sobald mehr als fünf Musiker frei improvisieren, braucht es Organisationshilfen. Mein Kartenspiel «Play!» (siehe Box) bietet einem Tentett Strukturen und ermöglicht zugleich unzählige Spielvarianten.
Was ist neu daran?
Ich spiele oft zeitgenössische komponierte, aber auch frei improvisierte Musik und gehöre damit zu einer Generation von Hybridmusikern, die gut Noten lesen können, aber auch improvisieren. Für solche Musikerinnen und Musiker habe ich nun dieses Misch-Setting entwickelt.
Bei «Play!» gibt es nicht nur Karten, sondern auch Rollen. Etwa die «Dirigentin».
Die erst mit Spielstart bestimmt wird! Er oder sie gibt die Einsätze sowie die Wahl der Karten an und gestaltet somit das ganze Geschehen. Es gibt pro Spiel drei Sätze, die aber ineinanderfliessen. Für den zweiten und dritten Satz gibt es neue Karten – und neue Dirigenten.
Kann man also von komponierter Improvisation sprechen?
Es ist eben Hybridmusik, denn es gibt trotz den komponierten Karten viel Freiraum für die Interpreten. Der Dirigent ist zugleich Komponist, der mithilfe des Ensembles und der Vorgaben auf den Spielkarten einen Satz gestaltet.
Also nicht frei improvisierend?
Es gibt jene Improvisation, die an einen Stil gekoppelt ist: etwa Jazz, Barock- oder Volksmusik. Da hat man gewisse Freiheiten, aber nicht alle. Die Freie Improvisation geht weiter, weil alles erlaubt ist. «Play!» ist keine Freie Improvisation, sondern eine Spielsituation mit Vorgaben und improvisatorischer Energie.
In der Freien Improvisation ist also alles erlaubt. Wie «verstehen » sich die Musiker?
Das ist abhängig von den Menschen, die zusammen improvisieren. Von der Grösse des Ensembles, von der Raumakustik, vom Publikum. Auf all diese Elemente reagiert man, spielt in einer optimalen Balance aus Agieren und Reagieren, aus Spielen und Hören. Eine so schöne wie wichtige Haltung, denn das Zuhörenkönnen ist eine Kompetenz, die auch im gesellschaftlichen Leben von immens wichtiger Bedeutung ist. In der Musikausbildung gehört sie zur Grundkompetenz.
Gibt es auch vereinbarte Zeichen?
Nein. Man lässt sich leiten vom Gehör und spielt möglichst absichtslos aus dem Moment heraus. Man muss Risiken eingehen und sich auch mal zurücknehmen können. Und man darf keine Angst haben vor dem Scheitern.
Das Scheitern gehört zur Improvisation dazu?
Ja.
Kann auch «Play!» scheitern?
Natürlich. Wenn ich unklar auftrete oder spiele, werde ich nicht verstanden, und die anderen können nicht darauf reagieren. Gerade beim Improvisieren ist die Artikulationsgenauigkeit von zentraler Bedeutung. Deshalb spiele ich am liebsten mit Musikerinnen, die dieses Sensorium haben.
Wie haben Sie die Musiker für die «Play!»-Konzerte ausgesucht?
Ich habe nach Charakterköpfen gesucht, die mich nicht nur als Musiker überzeugen, sondern als Bandleaderinnen, als Komponisten und Improvisatorinnen. Alle haben ein breites Musikwissen, Gestaltungswillen und Wendigkeit. Es müssen Leute sein, die wie gute Schauspieler verschiedene Rollen spielen können, aber doch eine klare Identität haben.
Könnte «Play!» auch mit Rockoder Popmusikern gespielt werden?
Selbstverständlich. Aber eine «Play!»-Session mit Rockmusikern würde anders klingen als mit Jazzern. Es gibt einzelne Karten, die eine grosse Virtuosität verlangen.
Und mit klassischen Musikern, die sonst nur ab Noten spielen?
Ja, unbedingt. Die klassische Ausbildung verlangt heute eine grössere Offenheit als früher, und die Studentinnen und Studenten kommen mit vielen anderen Welten in Berührung.
Sie selbst unterrichten Improvisation für Klassiker an der ZHdK. Ein Freifach?
Nein! Für Bachelorstudenten sind zwei Semester Freie Improvisation Pflicht. Das wurde vor über 30 Jahren an den Konservatorien von Zürich und Winterthur eingeführt, was eine europaweite Pioniertat war. Und eine weitsichtige! Denn Instrumentalisten, die improvisieren können, sind auch bessere Kammermusiker. Weil sie lernen, intensiv auf ihre Mitspieler zu hören und sich mit ihrer Stimme besser integrieren können. Auf diese Weise befruchten sich Komposition, Interpretation und Improvisation gegenseitig.
Bei Mischformen fragt man sich oft: Wo endet die Komposition, wo beginnt die Improvisation?
So soll es sein! Denn wir Hybridmusiker spielen im Idealfall notierte Passagen und Kompositionen so locker, dass sie wie im Moment entstehend klingen. Und improvisierte Momente haben eine derart exakte Artikulation und Dringlichkeit wie eine gute Komposition. Für mich als Musiker ist dieses Wechselspiel seit 30 Jahren der grösste Antrieb, an dieser Verzahnung weiter zu forschen und zu experimentieren.
Play!
Do/Fr, 5.1./6.1., 20.00 Kunstraum, Walcheturm Zürich
www.lucasniggli.com
So funktioniert «Play!»
Das Kartenspiel «Play!» ist für 10 Instrumentalisten konzipiert. Die 40 Karten werden vom Publikum gemischt und dann an die Musiker verteilt: je eine Rhythmus-, eine Melodie- und eine Texturkarte, die Vorgaben zum gemeinsamen Spiel machen. Einer bekommt die Karte «Dirigent» und leitet das Ensemble. Ein «Solist» hat freie Hand, ein «Shadow» agiert als anarchischer Libero. Zweimal werden die Karten neu verteilt, und ein neuer Dirigent übernimmt. Auf diese Weise lassen sich unterschiedlichste Konzerte kreieren. Um dies hörbar zu machen, werden pro Konzertabend zwei Durchgänge gespielt, also insgesamt sechs Sätze.
«Play!»-Erfinder Lucas Niggli (54) ist international gefeierter Schlagzeuger im Grenzbereich von Jazz, Freier Improvisation und Neuer Musik.