Ein Gongschlag verhallt über einem sirrenden Becken. Leise meldet sich ein luftig geblasenes Saxofon, das sich wie ein Nebelhorn den Weg zu einer brummenden Posaune sucht und sich mit dieser zu einer kurzen Dissonanz trifft. Was nach freier Improvisation klingt oder Neuer Musik, ist das Intro zum neuen Album von Hildegard lernt fliegen. Überraschend für eine Band, die bekannt wurde mit überbordender Musikalität und Happenings von zirzensisch purzelndem Spielwitz. «Wir hatten einfach Lust auf etwas ganz anderes», sagt Andreas Schaerer. Der Sänger des Sextetts ist seit der Gründung 2005 auch dessen Komponist, Arrangeur und Texter. Nach vier putzmunteren Alben überraschte Schaerer 2016 mit der Suite «The Big Wig», für die er die Hildegards ins Orchester der Lucerne Festival Academy infiltrierte.
Dringliche Themen und bildkräftige Lyrik
Auch das neue Album «The Waves Are Rising, Dear!» ist als Suite konzipiert, klingt aber entschieden anders. Schaerer spricht von einem «Konzeptalbum mit einer dramaturgischen Entwicklung über die ganzen 43 Minuten». Musikalisch schlägt die Band komplexe Töne an nach Art eines konzentriert aufspielenden Kammerensembles. Dazu besingt Schaerer in bildkräftiger Lyrik Motive wie Wellen, Wasser und den Zeitenstrom. Daraus lassen sich brisante Fragestellungen zu Klimawandel oder Orientierungslosigkeit ablesen. «My compass is failing dear / I’ve lost my route, my senses are fading», heisst es an einer Stelle. «Mein Kompass versagt, ich bin vom Weg abgekommen, meine Sinne schwinden». «Es mangelt momentan nicht an dringlichen Themen», kommentiert Andreas Schaerer diese neue Tiefgründigkeit.
Die Entschlüsselung seiner Texte überlässt er jedem Einzelnen. Schon die Titelzeile «The Waves Are Rising» könne man gesellschaftskritisch verstehen, metaphorisch oder philosophisch. Der Song «Water», der aus der stetigen Wiederholung dieses einen Wortes besteht, evoziert beim Publikum wohl unterschiedlichste Bilder. Gerade dieses Stück macht eine weitere Besonderheit des neuen Hildegard-Albums deutlich: Sänger Schaerer hält sich stimmlich zurück und verzichtet auf seine bekannten Vokalspielereien, auf Scat- oder Beatbox-Einlagen. «Solche Kapriolen hätten vom Inhalt abgelenkt», sagt er und betont sogleich, dass er an Konzerten weiterhin experimentieren werde.
Als gefeierter Vokalist ist Andreas Schaerer heute in diversen internationalen Projekten anzutreffen. Dies gilt auch für Posaunist Andreas Tschopp, die Saxer Matthias Wenger und Benedikt Reising, Bassist Marco Müller und Drummer Christoph Steiner. Doch: «Hildegard lernt fliegen bleibt eine Familie, und alle haben genügend Platz.» Schaerer betont dies, weil sein neues Label ACT die Hildegard-CD unter seinem Namen herausgibt. Treue Hildegard-Fans werden zudem bedauern, dass nur wenige Konzerte in der Schweiz stattfinden. «In der Schweiz sind die Plattformen für unsere Nischenmusik beschränkt. Daher müssen wir einen grösseren Radius bereisen», sagt Andreas Schaerer dazu. Apropos Nische: Die CD-Taufe steigt in der Hamburger Elbphilharmonie.
Konzerte
Sa, 21.3., 20.00 Kulturcasino Bern
So, 22.3., 19.00 Moods Zürich
Fr, 1.5., 20.00 Kaserne Basel
Sa, 16.5., 22.15 Kammgarn Schaffhausen
www.hildegardlerntfliegen.ch
CD
Andreas Schaerer/Hildegard lernt fliegen
The Waves Are Rising, Dear!
(ACT 2020)