Ausnahmsweise sind sich alle einig: Die Welt braucht mehr Liebe «in Zeiten wie diesen». Dabei war 2024 nicht das erste Jahr in «diesen Zeiten». Und wer weiss, wie lange wir noch in «diesen Zeiten» feststecken werden. Waren wir überhaupt jemals in anderen Zeiten? Seit ich alt genug bin, um Nachrichten zu lesen/hören/schauen, hat es keine ruhige Minute gegeben.
Wie auch? Auf dieser riesigen Welt mit ihren zigtausenden verschiedenen, parallel existierenden Lebensrealitäten ist so viel los, wie in meinem Kompost an einem heissen Tag. Alles lebt. Alles verändert sich. Andauernd! Ganz schön anstrengend. So wie die Frau an der Käsetheke dir stets 100 Gramm zu viel unterjubelt mit «Derfs es bitzeli meh sii?», steh ich als Kundin an der Newstheke und frage: «Chönts es bitzeli weniger sii?»
Wir Menschen wollen ja überall Dramaturgien erkennen, um unser Dasein in irgendein grösseres Ganzes einzuordnen und unsere Rolle darin zu finden. Aber ein schönes, sinnstiftendes Narrativ im Leben zu erkennen, fällt schon im Privaten schwer: War dieser Unfall tatsächlich ein Segen, weil diese Person einen neuen Job finden musste? Musste sich diese Person wirklich von der anderen trennen, um ihr grosses Glück zu finden?
Und dann erst im Globalen: Musste dieser Krieg eskalieren? Musste dieses Land alle Fortschritte des letzten halben Jahrhunderts wieder rückgängig machen? Waren es überhaupt objektiv gesehen Fortschritte?! Schwer zu sagen, ob wir insgesamt alle auf dem richtigen Weg sind. Doch immerhin einigen wir uns auf etwas: Die Welt braucht mehr Liebe. (Du gäll, nützts nüüt, so schadts nüüt …)
Darum konzentrieren wir uns doch auf sie: die Liebe. Es tut gut, sich daran zu erinnern, dass es kein komplett liebloses Jahr war. Auch wenn Angst und Schrecken sich immer mehr Platz krallen an der gedeckten Tafel der Aufmerksamkeitsökonomie. Da war schon viel Gutes dabei: Nemo gewinnt den Eurovision Song Contest mit einem Lied über Selbstliebe. Paris, die Stadt der Liebe, feiert seine Liebe zur Kunst, Kultur und Diversität (lustig, dass es dafür den Sport brauchte).
Biden tritt von einer zweiten Kandidatur zurück und macht Platz für eine potenzielle erste weibliche Präsidentin. Thailand beschliesst die Ehe für Alle (ja, mehr Diversität!). Die pflanzliche Wurst darf weiterhin «Wurst» heissen (Wurstdiversität! Es derf es bitzeli meh sii!). Sarah McBride wird als erste Transperson in den US-Kongress gewählt (endlich!). Und in Borkum wird aus Liebe zur Frau der gewaltvolle Brauch «Klaasohm» abgeschafft (ENDLICH). In dieser Auflistung würde mein dramaturgieliebendes Hirn jetzt einen Aufwärtstrend erkennen wollen …
Aber «Liebe» ist so ein Wort. Alle dürfen es nutzen, niemand hat die Deutungshoheit darüber. Darum konnte auch Folgendes passieren: Im ausverkauften Saal des Zürcher Kongresshauses deklariert Alice Weidel unerschrocken ihre innige Liebe zu ihrer Frau, während in Deutschland ihre rechtsradikalen Anhänger Regenbogenfahnen verbrennen.
Trump bezeichnet den 6. Januar 2021 als «Day of Love» (Orwell hätte sich gefreut), obwohl damals seine irre Eroberungstruppe mit dem Schlachtruf «Hang Mike Pence» vorauspreschte … Aber hey, immerhin wird er angeblich in den nächsten zwei Wochen alle Kriege der Welt beendet haben, you go girl! Und als EU-Kommissar Thierry Breton Elon Musk daran erinnerte, dass «mit grossem Publikum auch grosse Verantwortung komme» und er sich um die Desinformation auf seiner Plattform kümmern müsse, antwortete Musk mit einem diplomatischen «Take a big step back and literally f*ck your own face». Aus Liebe zur Meinungsäusserungsfreiheit.
Ihr seht das Problem:
«Ich liebe Kaffee!»
«Ich liebe Hunde!»
«Ich liebe meine Familie!»
«Ich liebe Waffen!»
«Ich liebe alle Kulturen!»
«Ich liebe Freiheit!»
«Ich liebe mein Vaterland!»
Je nachdem, wer von welcher Liebe gerade nicht genug oder zu viel hat, ändert sich die Dramaturgie des Jahres markant. Und momentan gleicht sie dem Ende einer zweiten Serienstaffel: Aus Angst, dass das Publikum das Interesse verliert, gibts noch ein paar unglaublich unerwartete Wendungen. Einige scheinen aus der Luft gegriffen, andere so gewollt dramatisch, dass die Absicht dahinter zu offensichtlich wird (Schock! Verwirrung! Dranbleiben!) und mensch sich verarscht vorkommt. Am liebsten will mensch den Deckel vom Kompost einfach ganz zumachen und gar nichts mehr davon mitkriegen. Weil, ja: Alles lebt. Alles verändert sich. Andauernd! Ganz schön anstrengend.
Vor allem «in Zeiten wie diesen!». Wie also können wir das alles in ein Licht rücken, in dem die Dramaturgie uns wieder zudienlich ist, Sinn stiftet und Hoffnung verspricht? Sagen wir: «Jaja, das Pendel muss eben ganz weit ausschlagen, um danach wieder in die richtige Richtung zu schwingen!» – und lassen es geschehen? Sagen wir: «Keine Panik, einfach ausschwingen lassen, das Pendel, und dann kommt eine ruhigere, friedlichere Zeit!»? Und warten ab? Oder packen wir das verdammte Pendel und schmettern es mit aller Wucht gegen eine Wand, damit die Metapher ein Ende hat?!
Einatmen.
Ausatmen.
Ich bin immer noch der tiefen Überzeugung, dass Gewalt gegen Pendel keine Lösung sein kann. Und dass wir, egal wie frustriert, weiterhin allen mit Respekt begegnen sollten (ok, fast allen, aber ihr wisst schon, was ich meine). Und irgendwie müssen wir in unseren Herzen eine Hoffnung kultivieren, die uns hilft, nicht zu verzweifeln.
Die uns Antrieb gibt, im Kleinen und im Grossen etwas verändern zu wollen. Eine Hoffnung, die uns weiterhin Teil der Geschichte sein lässt, damit wir uns nicht selber rausnehmen und den Hörer auflegen und gar nichts mehr mit der Gesellschaft zu tun haben wollen. Denn die Welt braucht jeden einzelnen Menschen, um Gemeinschaft zu bilden. Da gedeiht Hoffnung und Zuversicht und … ja …
eben … Liebe.
Und fürs nächste Jahr wünsche ich allen, die an der grossen Käsetheke der Liebe stehen, die Frage: «Derfs es bitzeli meh sii?»
Zur Person
Jane Mumford (* 1988) ist Kabarettistin, Komikerin, Musikerin und Animationsfilmerin. Die schweizerisch-britische Künstlerin war beteiligt an TV-Formaten wie «Deville Late Night» und «Comedy Talent Show» oder an Radioformaten wie «Satirefraktion» oder «Ohrfeigen». Seit 2014 steht sie zusammen mit Lea Whitcher als Duo 9 Volt Nelly auf der Bühne. Und kürzlich ist sie mit ihrem zweiten Soloprogramm «Leben!» zur Schweiz-Tournee gestartet.