Wir leben nicht im Paradies. Auch wenn viele Menschen mit den Gegebenheiten des Ortes, an dem das Schicksal oder ihre freie Wahl sie hin verschlagen hat, durchaus zufrieden sind: Für ein Paradies halten die meisten Menschen den Ort, an dem sie wirken und tätig sind, nicht.
Andererseits scheint die Annahme für die meisten unserer Zeitgenossen absurd, das Paradies müsse man im Jenseits suchen, ausserhalb unseres irdischen Daseins und unserer Lebenszeit. Irgendwie ist der Gedanke enttäuschend, paradiesische Zustände gebe es nur im Ausserirdischen. Sowohl das himmlische Jerusalem, der Garten Eden oder Dantes Spekulation über eine glückselige Existenz in der Anschauung Gottes in der «himmlischen Rose» sind Vorstellungen, die allesamt genährt sind von höchst irdischen und sinnlichen Erfahrungen von Naturschönheit. Ein Paradies kann es doch nur geben, wo wir nichts von dem vermissen, was das Erdenleben uns als Glücksvorstellung und Schönheitsahnung aufscheinen liess!
In jüdischer, christlicher und islamischer Tradition ist die Vorstellung eines vor der individuellen Geburt und nach dem individuellen Tod gedachten Lebens an das Bild eines Gartens gebunden. Die Griechen haben bei der Übersetzung der hebräischen Schöpfungsgeschichte das Wort «parádeisos» für den «Garten Eden» gewählt. Es geht auf ein altiranisches Wort zurück, das ursprünglich offenbar einen umzäunten Baumgarten bezeichnete. In der Geschichte der Malerei gibt es fantastische Darstellungen solcher Gärten, wo Wolf und Schaf, Löwe und Antilope einvernehmlich mit Adam und Eva und einem wohlwollend zuschauenden Gottvater nebeneinander lebten.
Wir reden freilich auch vom siebten Himmel. Wer sich dort befindet, soll das höchste der Glücksgefühle erleben. Das Bild verdankt sich den sowohl aristotelischen wie talmudischen Vorstellungen, dass sich über der Erde in schalenartig übereinander geschichteten Sphären die (damals bekannten) sieben Planeten kreisen würden. Das berühmte Jesuswort aus dem Lukasevangelium zu einem der mitgekreuzigten Verbrecher lautet: «Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein!» Ich habe mich schon als Schulkind gefragt, wie dieser geschundene Mann sich wohl das Paradies vorgestellt haben mag, bevor die römischen Soldaten ihm am Kreuz die Knochen brachen. Vielleicht stellte er sich nur einen Ort vor, an dem es keinen Schmerz und kein Leiden mehr gab.
Uns sinnliche Menschen lässt der Gedanke des Paradieses als eines wunderreichen Gartens aber nicht los. Im Jahr 2016 gab es im Rietberg Museum in Zürich eine grandiose Ausstellung über «Gärten der Welt». Sie hatte den Untertitel: «Orte der Sehnsucht und der Inspiration». Wenn man heute den Katalog der Ausstellung durchblättert, fällt es einem wie Schuppen von den Augen: Alle Kulturen der Welt haben Paradiese gesucht und diese – zumindest zeitweilig – auf Erden auch gefunden. Orte der Einfachheit und der Komplexität, der Ruhe und der Erregungen, der Vertrautheit und der endlosen Überraschungen. Weit abgelegene und ganz und gar naheliegende Orte, die jedoch eines gemeinsam haben: Sie tragen das Potenzial einer wundersamen Entdeckung in sich.
Glaubte Gauguin nicht, als er sein Tahiti erreichte, er lebe nun im Paradies, auch wenn dies sich schneller als gewollt als Illusion herausstellte und der Künstler – als ein ewiger Paradiessucher – zu den Marquesas-Inseln auf Hiva Oa weiterziehen musste? Mit Orten, die wir als Paradiese bezeichnen, meinen wir oft auch Reservate ursprünglicher Lebensformen, die freilich für menschliches Überleben alles andere als freundlich und angenehm sind. Für solche Paradiese sind Tiere und Pflanzen besser geeignet, doch die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Genuinen, Exotischen und von der Zivilisation noch Verschontem treibt uns dazu, solche subtropischen Inseln und Zonen unseres Planeten als «Naturparadiese» zu betrachten.
So sind auch «Paradiesvögel» ornithologisch betrachtet eine Gruppe von Vogelarten, die zu den sing- und rufbegabten Sperlingsvögeln gehören und auf Inseln wie Neuguinea, auf den Molukken und in den Regenwäldern im Norden Australiens wohnen. Ihre Steuer- und Schwanzfedern sind bei den männlichen Tieren prachtvoll gefärbt, verlängert und geradezu theatralisch wirkungsvoll einsetzbar. Bei der Balz sind einige Vogelarten richtige Kleidungs- und Ver-kleidungskünstler. Was sicher dazu beigetragen hat, dass die menschliche Ausgabe des Paradiesvogels als ein männliches oder weibliches Wesen angesehen wird, welches gemeinhin als Exzentriker zu bezeichnen ist, sich bewusst vom Normalen abhebend, in Kleidung und Verhalten sich mutig zwischen Dandy, Sonderling und sogar Spinner erstreckend. Phänomenologisch betrachtet handelt es sich beim menschlichen Paradiesvogel um ein Wesen, das, weil es intelligent und raffiniert ist, meist konfliktarm sich noch zu Lebzeiten sein eigenes Paradies schafft. Vermutlich, um an der Normalität und Banalität des Daseins nicht verzweifelt zugrunde zu gehen.
Ein unvergleichlicher Paradiesvogel unter den Künstlern des 20. Jahrhunderts war sicherlich Picasso. Doch der von mir am meisten bewunderte Paradiesvogel bleibt der französische Komponist, Organist und ornithologische Fachmann Olivier Messiaen. Sein ganzes Leben lang (1908–1992) hat er versucht, paradiesische Naturerlebnisse und Glückserfahrungen in Töne zu setzen. Nicht durch kopierte Notation der natürlichen Vogeltöne, sondern durch imaginierte Umsetzung des von ihm Gehörten in paradiesische Stimmigkeit.
Heute können wir seinen Umgang mit Vogelrufen und Vogelstimmen in Orgel- und Klavierwerken erleben, in Orchesterwerken aus den früheren Jahren und aus der Spätzeit. Noch als 80-Jähriger ist Messiaen nach Australien gereist, um erstmals in seinem Leben den Prachtleierschwanz zu hören, den Oberkünstler unter den Singvögeln, der jede von ihm in seinem Umfeld gehörte Tonfolge nachahmt und darum die Notrufe eines regenwaldbehausten Vogels oder Säugetiers ebenso wie die Geräusche einer nahegelegenen Baustelle oder Polizeisirene wiederholt. Ein Paradiesvogel kann stimmlich ziemlich alles, was die Welt hörend wahrnehmen kann.
Messiaen war ein Musiker, aber auch ein Mystiker. Das Paradies war für ihn letztlich erst im «Au-delà» – also im Jenseits – zu finden. Einer der Sätze seines letzten Orchesterwerkes hat mit den Tönen des Vogels «Oiseau-lyre» zu tun, also mit jenen des Prachtleierschwanzes. Der letzte Satz setzt das «Licht des Paradieses» in Töne. Von der Erde aus gibt es nur «Éclairs sur l’au-delà»: Streiflichter auf das, was das Paradies einmal werden und sein könnte.
Um Schönheit und Glück unseres irdischen Daseins zu begreifen, brauchen wir dringend mehr Paradiesvögel unter uns.
Iso Camartin
Iso Camartin (*1944) ist im Bündner Bergdorf Disentis aufgewachsen und hat Philosophie und Romanistik studiert. Von 1985 bis 1997 war er Professor für Rätoromanische Literatur und Kultur an der ETH und an der Universität Zürich. Von 2000 bis 2003 leitete er die Kulturabteilung beim Schweizer Fernsehen DRS. Seither ist er freier Autor. Zuletzt ist «Die Reise zu den Zedern – Aufzeichnungen eines Klostergärtners» erschienen. Er lebt in Zürich, Disentis und New Brunswick, New Jersey.