Für meinen Grossvater gehörte es zum guten Ton, an einem Strand ausserhalb der Stadt baden zu gehen. Obwohl die Fahrt dorthin in einem überfüllten Bus eine schwitzige und klebrige Angelegenheit war, wich er davon nicht ab, und manchmal mussten auch wir Kinder mit. «Seht ihr», rief er dann enthusiastisch, als wir ins Wasser stiegen, «wie klar das Meer doch hier ist! Man sieht jedes Sandkörnchen auf dem Boden». Unsere Begeisterung hielt sich in Grenzen. Wir wären lieber an einem der vielen Odessa-Stadtstrände ins Wasser gegangen.
Dass ich mal weit weg von Meer und Strand leben würde, wäre mir damals nicht in den Sinn gekommen. Selbst die Aussicht darauf hätte ich wahrscheinlich nicht als tragisch empfunden – das grosse Schwarze Meer vor der Haustür war mir derart selbstverständlich, dass es für mich keine Bedeutung hatte.
Wie unheimlich mir diese Selbstverständlichkeit fehlen würde, verspürte ich in meinem ersten Sommer in Deutschland. Ich weiss noch, wie heiss es war und dass sich unser Zimmer unter dem Dach bereits in der Früh wie ein Luftballon mit warmer Luft füllte und mich hinaustrieb. Es waren Sommerferien, und es war das erste Mal, dass ich nicht an den Strand konnte. Diese Tatsache raubte mir anfangs den Verstand. Ich irrte umher, wusste nichts mit mir anzufangen und schob den Gedanken ans Meer ganz tief in mich hinein, um nicht durchzudrehen.
Erst in diesem Moment, glaube ich, war mir bewusst geworden, dass mein Leben sich für immer verändert hatte. Nicht die neue Umgebung, nicht die fremde Sprache, nein, das Fehlen von etwas für mich.
Selbstverständlichem machte den entscheidenden Unterschied – als hätte ich mich von einem Teil meines Ichs verabschieden müssen. Ich dachte, ab jetzt werde ich den Sommer immer hassen, denn er versprach mir nichts mehr. Schlimmer noch: Er wies nur umso deutlicher darauf hin, was ich verloren hatte. Anfangs versuchte ich das Meer durch etwas anderes zu ersetzen. Schliesslich ist es doch nur Wasser, sagte ich zu mir selbst und ging ins Freibad.
Nach einer halben Stunde gab ich auf – die Phantomschmerzen waren zu stark. «Nun hab dich nicht so», sagten später meine Kommilitonen, und ich fuhr mit zum See. Wir breiteten uns im Gras aus, und ich legte mich pflichtbewusst auf mein Handtuch.
Von hier aus konnte ich das andere Ufer sehen. Es wollte sich bei mir einfach kein Strandfeeling einstellen, auch dann nicht, als ich ins Wasser stieg: keine Wellen, kein Rauschen, keine Farbspiele des Wassers. Nur eine glatte Stille, die kein einziges Geheimnis zu verbergen schien. Es folgten etliche Versuche, einen Ersatz zu finden, die alle erfolglos blieben. Die einzige Quelle, die mir geblieben war, waren meine Erinnerungen.
Sie holten mich wieder zurück in die Zeit, als ich morgens das Licht beobachtete, wie es seinen Weg durch die Vorhänge suchte und ich dabei zu erraten versuchte, ob es heute so heiss wird, dass wir vor 12 Uhr den Strand verlassen werden oder nicht.
Ich spürte die leichte Brise, die etwas Kühle mit sich brachte und eine baldige Wetteränderung ankündigte. Ich roch die salzige Luft und hörte Möwengeschrei über meinem Kopf. Diese fernen Tage, die ich am Strand meiner Heimatstadt verbracht hatte, waren die schönsten überhaupt gewesen. Mir ging es wie Albert Camus, den ich später als Seelenverwandten entdeckte
Auch für ihn, der in Algerien am Mittelmeer geboren worden war, waren die Sommertage am Meer die Urbilder des Glücks, die er als das Prachtvollste beschrieb, «was die Welt zu geben hat».
Er machte daraus ein ganzes Système de la Méditerranée, ein Lebensgefühl aus Oliven und Wein, aus Sonne und Sand, aus Einfachheit und Schönheit. Als Camus nach Paris umzog, litt er unter dem Entzug des Meeres wie ein Kind, dem man die Mutter weggenommen hat. «Ich wuchs am Meer auf, und die Armut schien mir kostbar; dann verlor ich das Meer, und aller Luxus erschien mir fortan grau und das Elend unerträglich», schrieb er. «Manchmal wache ich in der Nacht auf und glaube, noch halb im Schlaf, das Geräusch der Wellen zu hören. Ganz erwacht, merke ich, dass es der Wind in den Blättern war und das unselige Lärmen der öden Stadt. Dann brauche ich meine ganze Kunst, um meine Enttäuschung zu verbergen oder sie modisch zu verkleiden.» Als Kind planschte ich einfach gerne, bis meine Lippen sich blau färbten und man mich aus dem Wasser zerrte.
Später gefiel es mir, den Wellen zuzuhören, wie sie am Ufer ausliefen und wie sie schäumten oder gegen die Felsen schlugen. Und dann war da noch diese Weite gewesen, die unendlich zu sein schien. Mein Blick streifte die Oberfläche, ich atmete die salzige Luft ein und fühlte mich gut. Stundenlang konnte ich auf das Meer starren, ohne dass ich Langeweile verspürte. Mit der Zeit mochte ich den Sommer wieder.
Ein anderes Meer oder ein anderer Ozean gaben sich Mühe, mein Schwarzes Meer zu ersetzen, und ich fühlte mich wieder lebendig, bekam wieder einen Lebensrhythmus und meine Portion Energie für den Winter. Heimatliche Gefühle stellten sich zwar in keinem der Urlaubsländer ein, aber manchmal kamen die Déjà-vus, und ich war dankbar für diese Sinnestäuschungen, die dem Fremden etwas Vertrautheit verliehen und eine Brücke zwischen meinen Erinnerungen und der Gegenwart schlugen.
Und wenn ich dann nach Odessa fuhr, rebellierte meine Seele nicht mehr so stark wie früher, ich genoss die Gegenwart dort, und der fieberhafte Druck nahm ab, mein Hirn und meine Seele mit Meeres- und Stadteindrücken füllen zu müssen wie ein Wanderer seine Flasche mit Wasser, damit ich davon möglichst lange zehren konnte.
Zur Person
Irina Kilimnik wurde 1978 in der ukrainischen Hafenstadt Odessa geboren und kam mit 15 Jahren nach Deutschland, wo sie später Humanmedizin und Mediapublishing studierte. Sie ist die Autorin zahlreicher Essays, Buchrezensionen und Kurzgeschichten. In diesem Jahr ist ihr erster Roman «Sommer in Odessa» bei Kein & Aber erschienen. Irina Kilimnik lebt in Berlin.