Es sind Geräusche, die man kennt, aufs erste Hinhören aber nicht einordnen kann: ein raumfüllendes Rattern und Schnattern, Surren und Rauschen. Klingen Maschinen so? Mechanische Webstühle etwa oder Teile eines Förderbandes? Und woher kommt dieses Schnurren, dieses Rauschen? Das Weiss der Wände und die glänzend reinen Böden strahlen eher die Nüchternheit eines Labors aus als die russige Hitze einer mechanischen Werkstatt.
Ein Display wird Kunst
Wer das ehemalige Foyer im Erdgeschoss des Migros-Hochhauses in Zürich Herdern betritt, gerät ins Rätseln und bald ins Staunen. Denn die Wände bewegen sich, sie sind es, die rattern und rauschen. Das leise Schnurren lässt sich an einer Seitenwand im hinteren Teil der 400 Quadratmeter grossen Halle verorten. Dort hängt, dick gerahmt, abstrakte Kunst. Ein Werk in Gelb und Schwarz, wobei das Gelb sich stetig bewegt, horizontal und vertikal verändert und dadurch auf schwarzem Grund grafische Muster bildet. Winzige Plättchen kippen rasend schnell in zwei Richtungen. Der Rahmen, merkt man bald, ist ein Gehäuse, das ganze Werk ein Display, das sonst in Linienbussen hängt und den gefahrenen Kurs anzeigt. Das Tessiner Künstlerpaar Gysin–Vanetti hat dieses Display neu programmiert und Kunst daraus gemacht – digitale Kunst.
Das Erste seiner Art
Caroline Hirt freut sich ob des erstaunten Lächelns, das diese Erkenntnis auslöst. «Es geht allen gleich», sagt sie. «Ob Kind oder Ingenieur – alle reagieren emotional.» Die junge Genferin ist Hausherrin im MuDA, dem neuen Museum of Digital Art in Zürich. Gemeinsam mit dem Zürcher Grafiker und Gamedesigner Christian Etter hat sie über Jahre die Idee verfolgt, das erste Museum dieser Art in Europa zu realisieren. Digitale Kunst sei heute zwar in fast jeder Sammlung Zeitgenössischer Kunst zu finden, sagt Hirt. Ein eigenes Museum aber gab es bisher nicht. Dank Crowdfunding mit weltweiter Beteiligung hat das Duo sein Museum vor wenigen Wochen eröffnen können.
Unmittelbar neben dem Busdisplay und einem Pendant in Schwarz/Rosa steht ein klotziger Raumteiler, der sich in kurzen Taktabfolgen mit einem ungleich lauteren Rattern bemerkbar macht. Er ist fast 15 Meter breit, 7,5 Tonnen schwer und war 27 Jahre lang im Zürcher Hauptbahnhof zu sehen. Auf insgesamt 26 088 Lamellen hat der «Generalanzeiger» die Abfahrtszeiten der Züge angezeigt, die Destinationen und allfällige Verspätungen. Auch diesem mechanischen Koloss entlocken Andreas Gysin und Sidi Vanetti kunstvoll-verspielte Bilder. Sie haben nichts verändert – ausser dem digitalen Code, der die Anzeige steuert. Nun zeigt die Tafel plötzlich 20 Mal «Praha» an, daneben «Baden Basel» – sonst nichts. Oder es rauschen in charmanter Choreografie alle rotfarbenen Anzeigen herbei: ICE, ICN, EC, IR. Die schiere Grösse dieser Installation und das Spiel mit Bekanntem lassen niemanden kalt, die Neuinterpretation von Gewohntem, auch Nostalgischem. Es ist die Poesie des Alltäglichen, basierend auf einem Spiel mit digitalen Codes.
Ungleich kleiner als der Generalanzeiger blinkt ein nächstes Exponat in fahlem Grünblau: ein Digitaldisplay, wie es seit den 1970er-Jahren milliardenfach in Radioweckern, Armbanduhren und Mikrowellenöfen montiert wurde. Alle kennen diese aus Einzelbalken bestehenden Zahlen und Buchstaben. Gysin–Vanetti bringen auch sie zum Tanzen. Digitale Kunst ist laut Caroline Hirt alles, was animiert oder programmiert ist aufgrund eines binären Codes oder einer Computersprache. Das können Websites sein oder Videogames, Displays, Roboter, selbst der menschliche Körper.
App zur Ausstellung
MuDA ist erfolgreich gestartet. Das von einer Stiftung, der Digital Arts Foundation, getragene Museum arbeitet mit schlanken Strukturen. Finanziellen Support holen sich Hirt und Etter vorerst lediglich für die Realisierung von Ausstellungen. Wichtig sind den beiden Co-Direktoren die Niederschwelligkeit ihres Hauses und die Attraktivität der Ausstellungen. Zu jeder Ausstellung gibt es eine speziell entwickelte App – jene für die Eröffnungsschau von Gysin–Vanetti ist ab Juni erhältlich. Im Museumsshop liegen Pullover aus, gefertigt von Strickmaschinen mit poetisch programmierten Codes.
Gysin–Vanetti
Bis So, 21.8. MuDA – Museum of Digital Art Zürich
Mehr Infos: zrh.muda.co
Fünf Fragen an Caroline Hirt, Co-Leiterin des MuDA – Museum of Digital Art in Zürich
«Wir wollen die Poesie von Algorithmen erfahrbar machen»
kulturtipp: Warum steht das europaweit erste Museum für digitale Kunst ausgerechnet in Zürich?
Caroline Hirt: Zürich ist prädestiniert, weil die digitale Kunst hier einen hohen Stellenwert geniesst. Wir hatten zudem das Glück, einen Standort zu finden, der mitten in einem alten Industriegebiet liegt, das sich rasant entwickelt. Unsere Nachbarn bilden ein optimales Ökosystem für digitale Kunst: das Toni-Areal mit seinen Hochschulen
für Kunst, Wissenschaft und Technologie.
MuDA soll als physisches und virtuelles Museum funktionieren. Das müssen Sie erklären.
Unser Hauptanliegen ist es, digitaler Kunst einen physischen Raum zu geben, wo die ansonsten unsichtbare Welt von Codes und Algorithmen zu poetischem Leben erwacht. Unser Publikum soll sehen und erfahren, was aus diesen Codes entstehen kann. Dieses physische Museum soll auch ein Ort sein für Bildung und Austausch. Wir laden zu Workshops, Diskussionsforen, Führungen ein. Unsere Website und die zu jeder Ausstellung lancierten Apps bilden das virtuelle Museum, das als interaktives Erlebnis weltweit besucht werden kann.
Sie sprechen also nicht nur Nerds und Spezialisten an?
Nein, wir möchten einen möglichst niederschwelligen Zugang zu digitaler Kunst bieten. Mit der ersten Ausstellung ist es uns tatsächlich gelungen, ein gemischtes Publikum anzulocken. Andreas Gysin und Sidi Vanetti bringen nüchterne Anzeigetafeln, die wir aus dem Alltag kennen, zum Blinken, Tanzen, Rascheln.
Sie wollen also in erster Linie unterhalten?
Ein schöner Zufall will es, dass Muda auf Japanisch «nutzlos» heisst. Wir wollen die poetische Nutzlosigkeit digitaler Codes und Muster zeigen. Auch unsere nächsten Ausstellungen werden dies mittels zugänglicher, interaktiver Installationen in den Vordergrund stellen.
Sie sind Ethnologin. Was fasziniert Sie an digitaler Kunst?
Mich interessiert das Hinterfragen des Alltäglichen. Exakt dasselbe tun Gysin und Vanetti mit ihrer Neuprogrammierung von Displays, der Neuinterpretation ihrer alltäglichen Umgebung also. Ich bin sicher, dass die Ausstellungsbesucher ihren digitalen Weckern oder dem Display ihrer Mikrowelle künftig anders begegnen.