Nein, nicht Serengeti! An der Stiftungsratssitzung des Davos Festivals musste Graziella Contratto das Motto für ihr letztes Programm erst einmal erklären. Kein Nationalpark in Afrika, soviel war schnell klar. Aber was heisst denn Serendipity eigentlich? Das ist gar nicht so einfach zu übersetzen: Der englische Begriff stammt aus dem 18. Jahrhundert und stand in der Wissenschaft für eine zufällige Entdeckung von etwas, was gar nicht gesucht worden ist – früher etwa die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus oder heute LSD, Viagra, der Klettverschluss.
Heimatgefühl
Schliesslich übersetzte Contratto ihr Motto kurzerhand mit «Glücksfall». In einem «einzigartigen Glücksrausch» werde das Festival 2013 «vorüberwehen». Ist die 46-jährige Schwyzerin also überglücklich, nach sieben Jahren die Intendanz des Festivals abzugeben? Oder schwingt auch ein wenig Wehmut mit? «Sicher werde ich beim letzten Konzert etwas melancholisch sein. Aber insgesamt fühle ich mich erfüllt von dieser Zeit. Und mit dem Klarinettisten Reto Bieri bekommt das Festival einen Intendanten, der es sorgfältig weiterentwickelt.»
Sie habe diese Davoser Zeit mit einer «fast permanenten pastoralen Heiterkeit» erlebt. Schon Ende der 90er-Jahre kam Contratto als Künstlerin nach Davos, las den «Zauberberg» von Thomas Mann, verliebte sich in ihren heutigen Mann, einen Geiger. Ein «intensives Heimatgefühl» habe sie entwickelt, eine Sympathie, die das Publikum erwidert habe, obwohl es bisweilen stark gefordert war: «Mir ist aufgefallen, dass das Davoser Publikum sehr offen ist für das Innovative und Unbekannte, für das Gefährliche sozusagen. Ich mag das Risiko, wenn ich davon ausgehen kann, dass das Grundvertrauen besteht.» Dann könne man sich auf unsicheres Gelände vorwagen und etwas erleben. «Das kann sich als bereichernd erweisen, aber auch als eine Erfahrung, um zu wissen, was man in Zukunft nicht mehr braucht.»
In Bewegung
Immer wieder brachte Graziella Contratto ihr Publikum in Bewegung: Nomadenkonzerte führten in entlegene Alphütten, eine Schreinereihalle wurden zur Tanz-Arena umfunktioniert, die Hotellobby zum Opernhaus. Oder dann durfte sich das wandermüde Publikum wie einst die Lungenkranken im «Liegekonzert» beschallen lassen. Solche Elemente prägen auch das letzte Davos Festival unter Contrattos Leitung.
Da erhält Improvisatorisches breiten Raum, und etliche Programme brechen Hörgewohnheiten auf. Der Komponist und Hörspiel-Artist Leo Hofmann etwa versetzt Richard Wagner in einen abgründigen Salon. Und seine «Wesendonck-Lieder» erhalten mit Saxofon und Orgel ein gewagtes Klanggewand.
Pergolesis «Stabat Mater» darf vom Akkordeon begleitet werden. Das Gémeaux-Quartett wird von Nicolas Bolens in surreale Filmbilder getaucht oder nähert sich zusammen mit dem Tenor Julian Prégardien und dem Pianisten Michael Gees improvisierend Robert Schumanns Liedern.
Ruhezonen schaffen
Der Glarner Balz Trümpy ist als Gastkomponist eingeladen. Zwei Uraufführungen bringt er mit, zudem lässt er in seinem Workshop mit zwei Nachwuchskollegen das Publikum am Kompositionsprozess teilhaben. In den 21 Konzerten gibt es aber auch die ganz «normalen» Kammermusikkonzerte, «im Wissen, dass man an einem Festival nicht nur die wildesten Programme aneinanderreihen kann, sondern eine Dramaturgie mit gewissen Ruhezonen entwickeln muss», wie Graziella Contratto sagt. Klaviermusik oder Lieder aus Frankreich, Barockmusik in den Kirchen der Landschaft Davos stehen auf dem Programm. Zum Finale gibt es Schuberts Streichquintett, exakt jenes Gipfelwerk der Kammermusik, mit dem 2007 das erste Contratto-Konzert begonnen hatte.
Offen für alles
Contratto schliesst nicht aus, wieder einmal ein Festival zu leiten. Als ihr in früheren Jahren jemand sagte, ihre Begabung liege wohl eher im Bereich der Intendantin als der Dirigentin, da wollte sie das nicht so gerne hören. Unterdessen aber denkt sie, dass jener Mensch vielleicht nicht so unrecht hatte. Seit 2010 ist sie als Leiterin des Fachbereichs Musik in der Hochschule der Künste in Bern gefordert. Und kann die jetzt frei gewordene Zeit wieder vermehrt als Dirigentin nutzen. Oder auch als Vermittlerin: «Ich könnte mir vorstellen, vielleicht ein neues Format – ob für das Radio oder Fernsehen, vielleicht auch online – zu entwickeln und klassische Musik so zu vermitteln versuchen, dass sie bei jedem etwas auslöst.»
Davos Festival
Young Artists in Concert
Sa, 3.8.–Sa, 17.8.
Karten: 081 415 21 21
www.davosfestival.ch