Falscher Beginn. In die Ecke des Exoten lässt sich Max Emanuel Cencic nicht drängen. Mag er auch als Wunderkind zirkusreife Gesangsnummern in Fernsehshows geboten haben. Und mag er sechs Jahre lang im putzigen Matrosenanzug der Wiener Sängerknaben die Welt bereist haben und Countertenor geworden sein.
Trotzig gelangweilt beginnt der 36-jährige Kroate, über Betrachtungsweisen zu dozieren, belehrt das Gegenüber, dass nicht er, sondern unsere Zivilisation exotisch sei, und fügt sarkastisch an: «Am natürlichsten ist es offenbar, im Urwald zu wohnen und davon zu leben, was die Natur hergibt.» Später, längst ist eine spannende Diskussion entfacht, sagt er mit sehr leiser Ironie: «Ich ernte nicht auf Anhieb Sympathien.»
Auf Barock gesetzt
Der 36-Jährige, der in Kapuzenpullover und Jeans seinen Tee schlürft, ist ein zurückhaltender Mensch, der nichts mehr scheut als journalistische Zuspitzungen. Selbst für seine spektakuläre Lebenskurve hat er eine Erklärung: Als er mit 19 für einige Jahre aufhörte zu singen, war das weder eine pubertäre Revolution noch ein Entscheid gegen das Künstlersein: «Wie wollen Sie über Ihr Leben entscheiden, wenn Sie nichts anderes ausprobiert haben als Singen?» Der junge Künstler stellte sich damals die Sinnfrage – und war nach vier Jahren bereit, ein Musikimperium aufzubauen.
Cencic hatte Glück. Barockmusik boomte in den 1990ern. Er glaubt allerdings, dass Barockmusik vor 20 Jahren zwar salonfähig geworden sei, sich aber bis heute nicht wirklich durchgesetzt habe. «Die grossen Opernhäuser spielen höchstens eine Barockoper pro Saison, und selbst weltberühmte Barockensembles fristen ein Mauerblümchendasein.» Die wenigen Countertenöre müssten sehr gut sein. «Denn Barockmusiker müssen ohne Subventionen auskommen. Wir müssen davon leben, was die Leute kaufen.»
Verkaufsschlager
«Cencic» verkauft sich. Und wie: 25 000 Mal seine Gioacchino-Rossini-CD (!), 25 000 Mal die Operngesamteinspielung der Barockoper «Artasere» vom Komponisten Leonardo Vinci (1690–1730), für die Cencic gleich weitere vier Countertenorkollegen anheuerte. Er wirkte nicht nur als Sänger mit, sondern auch als Produzent. Da er sich nicht mit dem gängigen, von Agenten und Agenturen gelenkten System abfinden wollte, gründete er zu Beginn seiner Countertenorkarriere eine Firma und zog seine Projekte zusammen mit einem Partner selber durch. Seine Begründung dafür ist typisch für ihn: «Ich konnte nicht mit Sympathie rechnen.» Mit der Firma wuchs auch sein Ansehen als Sänger.
Auftritte als Frau
Es gab schon immer geschmeidigere und schönere Countertenorstimmen, aber keiner dieser Künstler fiel so extrem auf wie Cencic. Nur Marketinggags waren die visuellen Auftritte aber nicht, fügt er leicht lächelnd an: «Wer in der Barockwelt tätig ist, muss bisweilen exzentrisch sein.» Cencic will begreifen, was er auf der Bühne auferstehen lässt. Dazu schlüpft er für Aufführungen auch mal in Frauenkleider – und geniesst es. Aber wieder schwächt er den Aufschrei der Traditionalisten ab und sagt, dass es für ihn einfach eine Kunstgattung sei, eine Frau zu spielen. «Wer die römische Oper von einst wiederentstehen lassen will, muss das tun.»
Und in seiner nüchternen Art fügt er an: «Wir haben heute viel grössere Scheuklappen als früher. Für mich gibt es nichts Schlimmeres als die moderne Vermittelalterlichung.» Es verwundert ihn, dass die Klassikwelt über etwas staunt, das seit der sexuellen Revolution auf der Strasse jeden Tag zu sehen ist. «Männer, die als Frauen auf der Bühne stehen, eine Kuriosität? Bitte, schauts euch auf MTV an: Free Sex & Love gibt es seit Jahrzehnten, Madonna oder Jeff Koons liessen sich in den 90ern beim Sex ablichten. Stellen Sie sich vor, der französische Präsident würde wie Harald Glöckler herumlaufen und mit einer Mätresse zum Staatsempfang kommen! Das war im Barock normal.» Er redet sich lustvoll in Rage, kommt über den Katholizismus zum Islam und braucht einen neuen Tee.
Stück für Stück
Erfolg über Erfolg. Bedeutet dies eine rosige Zukunft? Vielleicht. Von einer Repertoireöffnung sind die grossen Opernhäuser immer noch ein grosses Stück entfernt. «Ich bin da, um an dieser Entwicklung zu arbeiten. Und vielleicht werde ich in 20 Jahren zurückschauen können und sagen: Das war ein kleines Steinchen in diesem Gesamtmosaik.»
CDs
Venezia
Rezital
(Virgin/EMI 2013).
Leonardo Vinci
Artasere
(Virgin/EMI 2012).
DVD
Monteverdi
L’Incoronazione di Poppea
(Virgin/EMI 2013).