Als er aufwachte, sah er nur das leichte Flackern ferner Lichter unten in der Stadt, die mondlose Nacht war stockfinster. Noch bevor er nach seinem Telefon tastete, wusste er, dass sie es mitgenommen hatten, die Schlüssel, die Karten, das Geld …
Sie hatten ihn hierher gebracht, weil sie einen Raub vortäuschen wollten, und sie hatten dabei in Kauf genommen, dass er hier oben zwischen den Bäumen am steilen Hang hilflos verenden könnte. Es liess ihn merkwürdig kalt, dass offenbar nicht einmal Lilian einen Finger für ihn gerührt hatte.
Und er überlegte, sich hochzuwuchten, sich hochzustemmen, aber er erhob sich mühelos, wie von selbst, als drehe jemand Unsichtbares seinen schweren knochigen Leib und stelle ihn auf die Beine. Er empfand dabei eine Leichtigkeit, die ihn entsetzte und begeisterte zugleich.
Er versuchte, sich zu erinnern, wie er hierher gekommen war, aber er kam nicht weiter als bis zu jenem eleganten hohen Raum hinter der Halle des «Exzelsior», wo er sich für gewöhnlich mit Lilian traf. Plötzlich war der Ton gelöscht und ein schwarzer Sack über ihn gestülpt worden, nachdem er einen einzigen Schluck aus dem mit Zucker verzierten eisgekühlten Glas getrunken hatte, und kurz davor war das erst unsichere, dann hämische Lachen der fuchsgesichtigen Fremden abgebrochen …
Auch Lilians erschreckter Aufschrei, das Glas, das Glas, das falsche Glas … Wie in einem alten Film war das alles in einen dunklen tonlosen Schlund gefallen, und jetzt fiel ihn beissende Reue an: Warum nur hatte er geduldet, dass die Fuchsgesichtige so lange bei ihnen sitzen blieb, sich die frisch gespritzten Lippen über dem lächerlich kurzen winzigen Kinn leckte und mit den Fingern die Schliffkanten ihres Glases nachzeichnete? Eine Frau, die das absolut Böse verkörperte, die von einem unerklärlichen Neid getrieben alle Welt um sich herum in ihre idiotischen Geschäfte zog und, kaum aus dem Gefängnis entlassen, wieder von vorne begann, eine Getriebene, die kein Lachen ertrug und keine Schönheit, von der sie ausgeschlossen war …Warum hatte Lilian sich so von ihr vereinnahmen lassen? War sie auf die angewiesen, oder hatte sie die Kälte bewundert? Die Gabe, andere zu zerstören und davon zu leben? Weil diese Frau keine Mühsal kannte und keinen Ekel, nur immer wieder neue Drogen, neue Gifte, die sie mit leichter Hand unter die Menschen streute, und dann für Wochen verschwand, um tief gebräunt wieder aufzutauchen, und schnell da und dort die Schulden einzutreiben, alleine, ohne einen Helfer, weil niemand sich ihr je widersetzte?
Ein Gefühl zu schweben. Wohl Reste des Gifts, das er getrunken hatte. Er würde nun in aller Ruhe den Berg hinuntersteigen und als Erstes zu Lilian schauen, ob sie unversehrt geblieben war. Die Idee, Lilian nach diesem Verrat wiederzusehen, machte ihn müde, aber es war undenkbar, alles im Ungewissen zu belassen; so viele Jahre kannten sie sich, brauchten sie sich, und hielten sich dabei einander vom Leibe, aber sie hatten sich auch geschont und nur erzählt, was nicht störte. Er hatte nichts von seiner schönen schweigsamen Frau erzählt bis zu ihrem Tod und nichts von den andern Frauen und niemals etwas von seinem Sohn, der ihn und sein blühendes Baugeschäft verachtete und bewunderte zugleich und beides hinter endlosen Reden über seine Chirurgenabenteuer versteckte und über die Intrigen der Kollegen. Während er selbst irgendwann begriffen hatte, dass sein Junge diesen Beruf nur gewählt hatte, weil er ihm Macht gab, Macht über andere, die Macht eines Menschen, der immer ein wenig belächelt wurde, der immer nur versucht hatte, heil durchzukommen, und als Arzt unangreifbar geworden war.
Und Lilian hatte niemals ein Wort über ihre andern Kunden verloren, nur gelegentlich ein paar trockene Witze über den städtischen Bauvorstand, der immer sein Feind gewesen war und alles tat, um seine Firma zu übergehen; und so hatten sie auf ihre Weise doch zueinandergehalten bis zu dem Augenblick, wo Lilian der Fuchsgesichtigen das Feld überlassen hatte.
Warum?
Er blieb noch einen Augenblick und schaute zu, wie das Schwarz des Himmels allmählich von einem tiefen dunklen Blau durchsetzt wurde, das sich von Sekunde zu Sekunde erhellte. Noch während die ersten hellen Flecken das Morgengrauen ankündigten, empfand er eine sinnlose Sehnsucht nach all den frühen Morgen seines Lebens, die einst so voller Erwartung gewesen waren, voll blinder Hoffnung, und in letzter Zeit nicht mehr so glanzvoll, eher matt, weil er müde war, und einsam ohne seine Frau, weil er nicht verhindern konnte, dass sein Leben verebbte wie eine letzte müde Welle, auch wenn er sich durch die Feste bewegte wie früher und alle Welt kannte – «alle Welt», wer war das schon, sie würden verschwinden wie er – und weiter in seinem kühlen Büro arbeitete, und mit trübem Blick den Animationen auf dem Bildschirm folgte, die Zahlen abhörte. Nur Lilians absurde Geschichten über ihr absurdes Leben am Rand der bürgerlichen Welt gaben ihm Auftrieb und das Gefühl, zu leben …
Ein heller Fleck schimmerte aus dem dunklen Untergrund zu ihm hinauf, er musste sich überwinden, um genau hinzuschauen, und beugte sich über den von zarten Eichenpflänzchen und huschenden Käfern verschatteten Flecken und erkannte sich selbst. Da lag er. Und seine Augen starrten unter den hohen Brauen an ihm vorbei erstaunt und ernst in den Himmel. Er blickte auf seinen Leichnam. Die Sonne warf ihre ersten Strahlen wie Fächer schräg in den Wald.
Ein Sog erfasste ihn und trug ihn langsam fort, während unter ihm eine Prozession von uniformierten Polizisten, orange und weiss leuchtenden Sanitätern und zwei Frauen im Gänseschritt die letzten Meter zu dem kleinen Plateau hochstiegen. – Alles rückte immer ferner, und ein grosses Lachen, eine kindlich sorglose Lustigkeit keimte auf in ihm, während er sah, wie zwei Polizisten Lilian behutsam von seiner Leiche wegzogen und zu einer sehr jungen blonden Polizistin schoben, die gerade versucht hatte, hastig und diskret eine Handvoll Nüsse zu essen, und sich entsetzlich verschluckte, als Lilian sich ihr in die Arme warf. Sie tätschelte Lilian hustend und röchelnd den Rücken, und kaute dann wieder versonnen, sie hatte Hunger und musste essen, so einfach war das.
Die Fuchsgesichtige hielt sich den Ärmel ihres Regenmantels vor ihr Tiergesicht, als störe sie ein Geruch. Nicht einmal in diesem Augenblick konnte sie ihre Bosheit ablegen, und im Übrigen ging alles weiter: Die Welt arbeitete und ass Nüsse, tröstete und verschluckte sich, und zwei Sanitäter machten sich an ihm zu schaffen und legten ihn in eine Folie, die im strahlenden Licht der aufglühenden Sonne silbern aufblitzte, während sich Lilian noch immer weinend ein paar Nüsse in den Mund steckte, die ihr die Polizistin einzeln reichte; so einfach war das, so leicht zu begreifen …
Katharina Faber
Katharina Faber, 1952 in Zürich geboren, arbeitete viele Jahre als Ärztin. 2002 erschien ihr Debütroman «Manchmal sehe ich am Himmel einen endlos weiten Strand». Danach veröffentlichte Katharina Faber Geschichten, bis 2008 mit «Fremde Signale» ihr zweiter Roman erschien.